Mit der Darstellung der Zeitrechnung bei den Babyloniern, Ägyptern, Mohammedanern, Persern, Indern, Chinesen, Japanern und Juden finden die chronologischen Systeme der orientalischen Völker ihren Abschluß, und ich hätte mich nun mit dem chronologischen Gebietsteile der klassischen Forschung, nämlich mit der Zeitrechnung der Römer, Griechen, sowie der Makedonier, Syrer und der kleinasiatischen Städte (welche für die Geschichte der Römer und Griechen oft in Frage kommt) zu beschäftigen. Ich war aber, und zwar nur wegen des unmittelbaren Zusammenhanges der Zeitrechnung jener Kulturvölker mit jener von Völkern ihrer Nachbargebiete, im I. Bande schon genötigt, auch das Zeitrechnungswesen einiger der sogenannten Naturvölker zu betrachten. Deshalb wurde dort (Kap. VI), im Anschluß an die Zeitrechnung der Inder, das Zeitrechnungswesen in Java, Sumatra und den andern südostasiatischen Inseln betrachtet, auf welchen das indische System allmählich verfällt und in primitive Formen herabsinkt; die Tibetaner, deren Zeitrechnung die Zeichen indischen und chinesischen Ursprungs trägt, mußten zwischen den Indern und Chinesen eingeschoben werden, und einige südsibirische Stämme am Schlusse der chinesisch-japanischen Zeitrechnung (im Anhang) Erwähnung finden. Die Zeitrechnung der Mexikaner, Zapoteken, Maya usw. wurde (Kap. VI) angeführt, um zu zeigen, daß dieselbe gar keinen Zusammenhang mit jener der asiatischen Kulturvölker besitzt, vielmehr auf eine durchaus selbständige Entwicklung schließen läßt. Es schien mir nun, nachdem mit der Darstellung der jüdischen Zeitrechnung die Chronologie der Orientalen abgeschlossen ist, bevor wir in das Gebiet der klassischen Forschung eintreten, hier die Stelle zu sein, an welcher noch eine Übersicht über das Zeitrechnungswesen jener Völker zu geben wäre, welche sich auf tieferer Kulturstufe befinden. Die nachfolgenden Mitteilungen bilden also eine Ergänzung zum Kap. VI und schließen sich an die dort gegebenen Zeitrechnungsarten an.
Einige Vorbemerkungen sind jedoch unerläßlich. Die erste betrifft die Quellen, welche unserer Kenntnis der Zeitrechnung der Naturvölker zugrunde liegen. Während die Darstellung der chronologischen Systeme der alten Völker auf der Basis einer ausgebreiteten Tradition, die durch die Zeugnisse der Alten, durch Inschriften, Literaturreste, Zusammenhang historischer Daten usw. geprüft werden kann, größtenteils möglich ist, besitzen wir bezüglich der Naturvölker auch nicht im entferntesten ein Material, welches mit dem verglichen werden könnte, das uns bei den alten Völkern zu Gebote steht. Größtenteils sind es Reiseberichte einzelner Expeditionen oder Forscher, die wir verwerten müssen. Die von diesen gesammelten Nachrichten über die bei den Eingeborenen heimischen Zeitmessungs-Einrichtungen und Begriffe sind nicht immer zuverlässig, da sie oft nur während kurzer Aufenthalte oder von Personen von sehr verschiedener Qualifikation gemacht sind. Die Überzahl der bei den Eingeborenen gewonnenen Nachrichten leidet an dem Mangel, daß sie nur vereinzelt vorhanden sind und seltener durch anderweitiges, aus derselben Beobachtungszeit stammendes Material kontrolliert werden können. Je weiter die Sammlung solcher Tradition von der Gegenwart zurückliegt, desto bedenklicher in bezug auf wissenschaftlichen Wert und Zuverlässigkeit müssen die uns zur Verfügung stehenden Materialien sein. Namentlich gilt dies von den Ergebnissen, die von den alten Autoren aus der Zeit des geographischen Aberglaubens und der Länderentdeckungen herrühren, wie es z. B. betreffs Südamerikas bei
, , , u. a. der Fall ist. Anderseits darf man aber auch diesen alten Nachrichten nicht allen Wert absprechen, da sie leicht den Zustand des Zeitrechnungswesens richtig angeben können, wie er früher bei Völkern geherrscht hat. Der letztere Vorzug, den die alten Quellen haben, kann uns einigermaßen über die Mißverständnisse trösten, die zweifellos in jenen Quellen dann und wann untergelaufen sind. Als zutreffender wie die alten geographischen Berichte können die Überlieferungen der Missionare und einzelner Persönlichkeiten gelten, welche lange Zeit in einzelnen Bezirken der Stämme seßhaft gewesen oder mit den letzteren oft in Berührung gekommen sind. Noch höheren Wert hat selbstverständlich das ethnographische Material, welches von wissenschaftlichen Gesellschaften und Instituten, die sich die Erforschung des geistigen Lebens der Naturvölker zur Aufgabe gemacht haben, gesammelt wird. Allein die Gründung der Missionen und noch mehr der wissenschaftlichen Institutionen (in den britischen Kolonien und in Nordamerika) ist erst eine Tat der neueren Zeit. Ferner sind die Naturvölker durch den gewaltigen Aufschwung des Weltverkehrs vielfach mit den europäischen, asiatischen und amerikanischen Kulturnationen in Berührung gekommen und haben vonden letzteren, wie hier und da (z. B. bei den nordamerikanischen Indianern, einigen Inselvölkern Polynesiens und an manchen asiatischen und afrikanischen Küstenorten) deutlich ersichtlich ist, bereits manches aus deren Zeitrechnung angenommen. Es ist deshalb bisweilen sehr fraglich, ob die modernen Berichte noch den ursprünglichen Zustand der Zeitrechnungsarten angeben, oder ob wir in ihnen nicht vielmehr schon ein Zerrbild der ehemaligen zu erblicken haben. Die alten Zeitrechnungsformen vieler Naturvölker gehen jedenfalls (wie die meisten dieser Völker selbst) dem Verschwinden entgegen, und nur dort, wo die Stämme vermöge ihrer geographischen Position noch fremden Kultureinflüssen entzogen sind (wie vielfach in Afrika und Südamerika) dürfen wir mehr oder weniger Ursprünglichkeit der Formen voraussetzen.
Die Sammlung zuverlässigen ethnographischen Materials in bezug auf das Zeitrechnungswesen wird durch die Schwierigkeiten beeinträchtigt, welche sich bekanntlich überall einstellen, wo es gilt, in die abstrakten Vorstellungen der Eingebornen, also hier in ihre Auffassungen von Zeit und Zeitteilung, einzudringen. Denn diese Begriffe hängen nicht bloß von der geistigen Befähigung der Stämme, sondern auch noch von einer Menge anderer Umstände ab und sind an dem einen Orte beinahe überhaupt nicht, an dem anderen Orte dafür aber in ziemlicher Reife vorhanden. Danach entscheidet sich, inwieweit wir Angaben über die einzelnen Zeitelemente, die Länge des Jahres, die Zeit des Jahresbeginns, die Zahl der Monate, die Wochen- und Tagesteilung erwarten können. Es ist sehr bemerkenswert, daß das erste dieser Elemente, die Jahreslänge, bei den Naturvölkern unter den Zeitbegriffen am seltensten angegeben werden kann; sie ist meistenteils unbestimmt und es läßt sich nur ausnahmsweise feststellen, ob ihr das tropische Sonnenjahr oder der Mondumlauf zugrunde liegt. Die Zeit des Jahresbeginns, welche überliefert wird, darf vielfach nur mit Vorbehalt als die Zeit des eigentlichen Jahresanfangs angesehen werden, da bei den Naturvölkern oft nach Halbjahren gerechnet wird und ihre Angaben sich dann auf den Anfang der Halbjahre beziehen. Die uns zu Gebote stehenden Quellen enthalten in dieser Beziehung sicherlich mancherlei Mißverständnisse, und es bleibt öfters fraglich, in welche Kategorie der Jahre man ein solch überliefertes Jahr einzureihen hat, ob in die Kategorie der Frühlings- resp. Herbstjahre, oder in jene der Sommer- resp. Winterjahre. Die Zahl der Monate, welche das Jahr füllen sollen, ist nicht selten zweifelhaft oder überhaupt nicht vorhanden, je nach der Kulturstufe, auf der sich die betreffenden Völker befinden. Es werden uns aber in dieser Beziehung auch bestimmte eigentümliche Angaben gemacht, wie die Nachrichten über 13monatliche und 10monatliche Jahre, welche nur durch eine besondere Erklärung ihre richtige
Deutung finden. Die weiteren Zeitelemente, wie die Teilung der Zeit nach den klimatischen Faktoren, nach Gruppen von Tagen, und die Teilung des Tages in Unterabteilungen, sind vielfach bei den Naturvölkern anzutreffen, ein Beweis, daß auch die meisten dieser Völker jene primitiven Zeitteilungen nicht entbehren können.
Gemäß diesen Bemerkungen muß notwendigerweise eine Darstellung des Zeitrechnungswesens der Naturvölker mit Mängeln behaftet sein, die aus der Beschaffenheit des zugrunde gelegten Materials hervorgehen. Dennoch bleibt sie lehrreich, da sie die stufenweise Entwicklung des Zeitbegriffs übersehen läßt. Man kann aus ihr auch richtige Vorstellungen von dem Entwicklungsgang der Zeitrechnung der Kulturnationen schöpfen, indem man das Einst mit dem Jetzt der Zeitrechnung in Parallele bringt. Wäre man sich des ethnographischen Entwicklungsgesetzes, das auch die Zeitbegriffe der Kulturvölker beeinflußt hat, immer bewußt gewesen, so wären mancherlei Hypothesen und Folgerungen unterblieben, die man betreffs der Zeitrechnung der alten Völker gemacht hat.
Ich gehe nun zur Sache selbst über und beginne mit den asiatischen Völkern. Die Quellen, deren ich mich bediene, sind im Texte durch die Namen der Autoren angedeutet, die Werke derselben sind im § 166 „Literatur“ angegeben. Vollständigkeit dieser und der andern Quellen, die ich zitiere, ist nicht angestrebt worden ; für die Zwecke des vorliegenden Kapitels wird vielmehr die Anführung nur desjenigen Materials dienlich sein, welches für die Zeitrechnung der einzelnen Völker besonders charakteristisch ist.