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IX. Kapitel.
Zeitrechnung der Naturvölker.

§ 160. Vorbemerkung.

Mit der Darstellung der Zeitrechnung bei den Babyloniern, Ägyptern, Mohamme­danern, Persern, Indern, Chinesen, Japanern und Juden finden die chronologischen Systeme der orientalischen Völker ihren Abschluß, und ich hätte mich nun mit dem chrono­logischen Gebietsteile der klassischen Forschung, nämlich mit der Zeit­rechnung der Römer, Griechen, sowie der Makedonier, Syrer und der kleinasia­tischen Städte (welche für die Geschichte der Römer und Griechen oft in Frage kommt) zu beschäftigen. Ich war aber, und zwar nur wegen des unmittelbaren Zusammen­hanges der Zeit­rechnung jener Kulturvölker mit jener von Völkern ihrer Nachbargebiete, im I. Bande schon ge­nötigt, auch das Zeitrechnungs­wesen einiger der sogenannten Natur­völker zu betrachten. Deshalb wurde dort (Kap. VI), im Anschluß an die Zeitrechnung der Inder, das Zeitrechnungswesen in Java, Sumatra und den andern südostasiatischen Inseln betrachtet, auf welchen das indische System allmählich verfällt und in primitive Formen herab­sinkt; die Tibetaner, deren Zeitrechnung die Zeichen indischen und chinesischen Ursprungs trägt, mußten zwischen den Indern und Chinesen eingeschoben werden, und einige südsibirische Stämme am Schlusse der chinesisch-japanischen Zeitrechnung (im Anhang) Erwähnung finden. Die Zeitrechnung der Mexikaner, Zapoteken, Maya usw. wurde (Kap. VI) angeführt, um zu zeigen, daß dieselbe gar keinen Zusammenhang mit jener der asiatischen Kulturvölker besitzt, vielmehr auf eine durchaus selbständige Entwicklung schließen läßt. Es schien mir nun, nachdem mit der Darstellung der jüdischen Zeitrechnung die Chronologie der Orientalen abgeschlossen ist, bevor wir in das Gebiet der klassischen Forschung eintreten, hier die Stelle zu sein, an welcher noch eine Übersicht über das Zeitrechnungs­wesen jener Völker zu geben wäre, welche sich auf tieferer Kulturstufe befinden. Die nachfolgenden Mitteilungen bilden also eine Ergänzung zum Kap. VI und schließen sich an die dort gegebenen Zeitrechnungs­arten an.

[§ 160. Vorbemerkung. 121]

Einige Vorbemerkungen sind jedoch unerläßlich. Die erste betrifft die Quellen, welche unserer Kenntnis der Zeitrechnung der Natur­völker zugrunde liegen. Während die Darstellung der chronologischen Systeme der alten Völker auf der Basis einer ausge­breiteten Tradition, die durch die Zeugnisse der Alten, durch Inschriften, Literaturreste, Zusammenhang historischer Daten usw. geprüft werden kann, größten­teils möglich ist, besitzen wir bezüglich der Naturvölker auch nicht im entferntesten ein Material, welches mit dem verglichen werden könnte, das uns bei den alten Völkern zu Gebote steht. Größtenteils sind es Reiseberichte einzelner Expeditionen oder Forscher, die wir verwerten müssen. Die von diesen gesammelten Nachrichten über die bei den Eingeborenen heimischen Zeitmessungs-Einrichtungen und Be­griffe sind nicht immer zuverlässig, da sie oft nur während kurzer Aufent­halte oder von Personen von sehr verschiedener Qualifikation gemacht sind. Die Überzahl der bei den Eingeborenen gewonnenen Nachrichten leidet an dem Mangel, daß sie nur vereinzelt vorhanden sind und seltener durch ander­weitiges, aus derselben Beobachtungszeit stammendes Material kontrolliert werden können. Je weiter die Sammlung solcher Tradition von der Gegenwart zurückliegt, desto bedenklicher in bezug auf wissen­schaftlichen Wert und Zuverlässigkeit müssen die uns zur Verfügung stehenden Materialien sein. Namentlich gilt dies von den Ergebnissen, die von den alten Autoren aus der Zeit des geographi­schen Aberglaubens und der Länder­entdeckungen herrühren, wie es z. B. betreffs Südamerikas bei Acosta, Herrera, Garcilasso, Marcgrav de Liebstadt u. a. der Fall ist. Anderseits darf man aber auch diesen alten Nachrichten nicht allen Wert absprechen, da sie leicht den Zustand des Zeitrechnungswesens richtig angeben können, wie er früher bei Völkern geherrscht hat. Der letztere Vorzug, den die alten Quellen haben, kann uns einigermaßen über die Mißverständnisse trösten, die zweifellos in jenen Quellen dann und wann untergelaufen sind. Als zutreffender wie die alten geographi­schen Berichte können die Über­lieferungen der Missionare und einzelner Persönlich­keiten gelten, welche lange Zeit in einzelnen Bezirken der Stämme seßhaft gewesen oder mit den letzteren oft in Berührung gekommen sind. Noch höheren Wert hat selbst­verständlich das ethnographische Material, welches von wissenschaftlichen Gesell­schaften und Instituten, die sich die Erforschung des geistigen Lebens der Natur­völker zur Aufgabe gemacht haben, gesammelt wird. Allein die Gründung der Missionen und noch mehr der wissenschaftlichen Institutionen (in den britischen Kolonien und in Nordamerika) ist erst eine Tat der neueren Zeit. Ferner sind die Naturvölker durch den gewaltigen Aufschwung des Weltverkehrs vielfach mit den europäischen, asiatischen und ameri­kanischen Kulturnationen in Berührung gekommen und haben von

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den letzteren, wie hier und da (z. B. bei den nordamerikanischen Indianern, einigen Inselvölkern Polynesiens und an manchen asiatischen und afrikanischen Küstenorten) deutlich ersichtlich ist, bereits manches aus deren Zeitrechnung angenommen. Es ist deshalb bisweilen sehr fraglich, ob die modernen Berichte noch den ursprünglichen Zustand der Zeitrechnungsarten angeben, oder ob wir in ihnen nicht vielmehr schon ein Zerrbild der ehemaligen zu erblicken haben. Die alten Zeitrechnungs­formen vieler Naturvölker gehen jedenfalls (wie die meisten dieser Völker selbst) dem Verschwinden entgegen, und nur dort, wo die Stämme vermöge ihrer geographischen Position noch fremden Kultureinflüssen entzogen sind (wie vielfach in Afrika und Südamerika) dürfen wir mehr oder weniger Ursprünglichkeit der Formen voraussetzen.

Die Sammlung zuverlässigen ethnographischen Materials in bezug auf das Zeit­rechnungswesen wird durch die Schwierigkeiten beein­trächtigt, welche sich bekanntlich überall einstellen, wo es gilt, in die abstrakten Vorstellungen der Eingebornen, also hier in ihre Auf­fassungen von Zeit und Zeitteilung, einzudringen. Denn diese Begriffe hängen nicht bloß von der geistigen Befähigung der Stämme, sondern auch noch von einer Menge anderer Umstände ab und sind an dem einen Orte beinahe überhaupt nicht, an dem anderen Orte dafür aber in ziemlicher Reife vorhanden. Danach entscheidet sich, inwieweit wir Angaben über die einzelnen Zeit­elemente, die Länge des Jahres, die Zeit des Jahresbeginns, die Zahl der Monate, die Wochen- und Tagesteilung erwarten können. Es ist sehr bemerkenswert, daß das erste dieser Elemente, die Jahreslänge, bei den Naturvölkern unter den Zeitbegriffen am seltensten angegeben werden kann; sie ist meistenteils unbestimmt und es läßt sich nur ausnahmsweise fest­stellen, ob ihr das tropische Sonnenjahr oder der Mondumlauf zu­grunde liegt. Die Zeit des Jahresbeginns, welche überliefert wird, darf vielfach nur mit Vorbehalt als die Zeit des eigentlichen Jahres­anfangs angesehen werden, da bei den Naturvölkern oft nach Halb­jahren gerechnet wird und ihre Angaben sich dann auf den Anfang der Halbjahre beziehen. Die uns zu Gebote stehenden Quellen ent­halten in dieser Beziehung sicherlich mancherlei Mißverständnisse, und es bleibt öfters fraglich, in welche Kategorie der Jahre man ein solch überliefertes Jahr einzureihen hat, ob in die Kategorie der Frühlings- resp. Herbstjahre, oder in jene der Sommer- resp. Winter­jahre. Die Zahl der Monate, welche das Jahr füllen sollen, ist nicht selten zweifelhaft oder überhaupt nicht vorhanden, je nach der Kultur­stufe, auf der sich die betreffenden Völker befinden. Es werden uns aber in dieser Beziehung auch bestimmte eigentümliche Angaben gemacht, wie die Nach­richten über 13monatliche und 10monatliche Jahre, welche nur durch eine besondere Erklärung ihre richtige

[§161. Asien. 123]

Deutung finden. Die weiteren Zeitelemente, wie die Teilung der Zeit nach den klimati­schen Faktoren, nach Gruppen von Tagen, und die Teilung des Tages in Unterab­teilungen, sind vielfach bei den Natur­völkern anzutreffen, ein Beweis, daß auch die meisten dieser Völker jene primitiven Zeitteilungen nicht entbehren können.

Gemäß diesen Bemerkungen muß notwendigerweise eine Dar­stellung des Zeit­rechnungs­wesens der Naturvölker mit Mängeln be­haftet sein, die aus der Beschaffenheit des zugrunde gelegten Materials hervorgehen. Dennoch bleibt sie lehrreich, da sie die stufenweise Entwicklung des Zeitbegriffs übersehen läßt. Man kann aus ihr auch richtige Vorstellungen von dem Entwicklungsgang der Zeit­rechnung der Kulturnationen schöpfen, indem man das Einst mit dem Jetzt der Zeitrechnung in Parallele bringt. Wäre man sich des ethnographischen Entwicklungsgesetzes, das auch die Zeitbegriffe der Kulturvölker beeinflußt hat, immer bewußt gewesen, so wären mancherlei Hypothesen und Folgerungen unterblieben, die man betreffs der Zeitrechnung der alten Völker gemacht hat.

Ich gehe nun zur Sache selbst über und beginne mit den asiatischen Völkern. Die Quellen, deren ich mich bediene, sind im Texte durch die Namen der Autoren angedeutet, die Werke derselben sind im § 166 „Literatur“ angegeben. Vollständigkeit dieser und der andern Quellen, die ich zitiere, ist nicht angestrebt worden ; für die Zwecke des vorliegenden Kapitels wird vielmehr die Anführung nur desjenigen Materials dienlich sein, welches für die Zeitrechnung der einzelnen Völker besonders charakteristisch ist.

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