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X. Kapitel.
Zeitrechnung der Römer.

§ 167. Vorbemerkung.

Wie in den bisherigen Kapiteln schließt sich auch die Darstellung des vorliegenden Abschnittes der römischen Chronologie an den Stand des Wissens an, welcher um die Zeit Idelers (1826) erreicht war. Seit den Werken dieses Chronologen hat das archäologische und historische Material für die Erfor­schung des Altertums in ungeheurer Weise zugenommen; die römische Epigraphik, die Quellen­forschung und Textkritik haben dementsprechend den Rahmen der früheren Anschauungen über römische Chronologie erweitert. Auf Grund der gefundenen Inschriften, Konsularfasten, Urkunden, Edikte usw. können eine Menge Details in der Zeit­rechnung der Kaiserzeit erklärt und vervollständigt werden; für die frühere Epoche des römi­schen Kalenders ist freilich wenig Material beigebracht worden, welches über die Berichte der Klassiker hinausgeht, aber es konnten doch verschiedene Punkte aufgehellt werden. Man hat aber auch den ganzen Ent­wicklungsgang der römischen Zeitrechnung von der ältesten Zeit bis auf Cäsar durch Aufstellung von Zeitrechnungs­systemen darzulegen ver­sucht. Den Anlaß hierzu gaben die Werke von Greswell (1852) und August Mommsen (1856—58). Beide Versuche kranken an Grund­fehlern: das erstere Werk basiert auf allerlei seltsamen Hypothesen, das zweite stützt sich allzusehr auf die Zeitrechnung der Griechen. Einer der bedeutendsten Kenner des römischen Altertums, Theodor Mommsen, der Bruder des vorgenannten, stellte (1859) deshalb eine neue Ansicht auf, welche lange als ein Grundpfeiler der römischen Chrono­logie betrachtet worden ist. Die seinem Werke noch anhaften­den Mängel erfuhren bald einige Widersprüche durch Hartmann, Huschke, Bröcker u. a.; später, seit dem Eingreifen von Unger (1879) entwickelten sich die Meinungs­verschiedenheiten zu einem heftigen, bis 1894 dauernden, in einigen Fragen bis in die neueste Zeit nach­klingenden Kampfe, an welchem sich Matzat, Lange, Seeck, Holz­apfel, Soltau, Fränkel, Bergk, Göler, Groebe u. a. beteiligt haben.

[§ 167. Vorbemerkung. 161]

Die von diesen Autoren aufgestellten Systeme gehen von historischen oder astronomischen Grundlagen aus, nehmen mitunter dabei ein chro­nologisches Rechnungsprinzip mit (wie Matzat) und suchen so den überlieferten Tatsachen (historischen Synchronismen, festgestellten Schaltjahren usw.) gerecht zu werden. Diese Arbeiten, mit einem großen Aufwand von Mühe und Scharfsinn aufgebaut, haben viele Punkte klar gelegt und manche früheren Irrtümer beseitigt; das Ideal, welches einzelne von ihnen angestrebt haben, nämlich die Lösung aller Fragen der römischen Chronologie durch ein einzelnes System, ist bis jetzt nicht erreicht worden, wie gleich im vorhinein bemerkt werden soll. Es scheint, daß die letzte Aufklärung vielmehr der Fort­entwicklung der historisch-philosophischen Disziplinen, vor allem aber der Beschaffung weiterer entscheidender Funde oder Materialien über­lassen bleiben wird. In einem Handbuche der Chronologie, wie in dem vorliegenden, welches den Leser über den Stand des gegenwärtigen Fortschrittes auf dem Gebiete der römischen Chronologie orientieren und ihm das Zurückgehen und Einarbeiten in die Spezial-Literatur erleichtern soll, kann die Darstellung jener Systeme nicht umgangen werden und sie ist dem Leser wichtiger als die Meinung, die der Ver­fasser dieses Buches selbst etwa über die römische Chronologie hat. Ich werde daher an passendem Orte eine Übersicht über die Grund­lagen dieser Systeme und die durch sie erreich­ten Resultate geben und werde auf die wichtigsten Einwürfe aufmerksam machen, welche man den Meinungen entgegenhalten kann. — Den Standpunkt, den ich gegenüber der Entwicklungs­geschichte des römischen Jahres ein­nehme, möchte ich aber gleich hier hervor­heben. Manche Chronologen, insbesonders Unger, haben gemeint, die Kenntnis, daß das Jahr 365 14 Tage hat, schon für die sehr alte Zeit annehmen zu dürfen. Darauf sind dann Hypo­thesen gebaut worden, so z. B. daß die Er­kenntnis eines Ausschaltungszyklus von 24 Jahren ebenfalls schon der alten Zeit zufalle; Unger hat sogar (unter dem Einfluß dieser Hypo­these) behauptet, daß der altrömische Kalender von Numa bis ins 6. Jahrh. der Stadt nicht von den Jahres­zeiten abge­wichen sei. Nach meiner Ansicht ist die Voraussetzung eines 365 14 tägigen Jahres für die alte Zeit nicht nur astronomisch, sondern auch entwicklungs­geschichtlich unmöglich. Ich habe mich vielmehr im folgenden bemüht zu zeigen, wie die Römer allmählich, ohne von anderen Völkern ihre Zeitrechnung zu entlehnen, selbständig und bis zum 2. Jahrh. v. Chr. ohne Kenntnis der genaueren Länge des Sonnenjahrs ihren Kalender und die Festzeiten in Ordnung haben halten können.

Von den Zeitelementen, mit denen sich die römische Chronologie beschäftigt, sind viele sehr alten Ursprungs, wie die Zeit des Tages­anfangs, die Zählung der Monatstage, oder sie haben im Laufe der

Ginzel, Chronologie II. 11

[162 X. Kapitel. Zeitrechnung der Römer.]

Entwicklung des Kalenders Veränderungen und Bereicherungen er­fahren, wie die Zeichen der Tage, die Feste u. a. Da von manchen dieser Dinge bei der Geschichte der römischen Jahrformen die Rede sein wird, so scheint es zweckmäßig, in der folgenden Darstellung nicht die Geschichte des römischen Jahres voranzuschieben, sondern zuerst jene Zeitelemente zu beschreiben.

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