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[162 X. Kapitel. Zeitrechnung der Römer.]

A) Die Zeitelemente.

§ 168. Der römische Tagesanfang.

Einige der klassischen Schriftsteller, welche über den Beginn des Tages bei verschiedenen Völkern berichten, geben an, die Römer hätten ihren Tag mit der Mitternacht begonnen; es sind dies Gellius, der sich auf Varro stützt, Censorin und Plinius1. Dies ist etwas sonderbar bei einem Volke, dessen Zeitrechnung ursprünglich seine Wurzeln im Mondjahre hat, wonach eher zu erwarten wäre, daß man (gleich anderen Völkern, die nach dem Mondjahre rechneten) den Tag nach Sonnenuntergang anfing. Die Erklärung liegt, wie Bilfinger hervorgehoben hat, in der Art und Weise, wie die Zeit der heiligen Handlungen (sacra publica) zum Tage gerechnet wurde. Fielen diese in die erste Hälfte der Nacht, so wurden sie noch zum vorhergehenden Tage gezählt; fanden sie in der zweiten Nachthälfte statt, so gehörten sie zum nächsten Tage. Die Auspizien z. B., die an einem wichtigen Tage (beim Antritt eines Magistrats, vor einer Volks­versammlung oder dgl.) anzustellen waren, mußten an eben diesem Tage vorgenommen werden, denn sie waren nur für diesen Tag gültig und mußten, wenn der Tag versäumt wurde, von neuem bestimmt werden. Zu ihrer Vornahme war aber das Schweigen (silentium) der Nacht erforderlich; man hatte daher die Auspizien in der Nacht (de nocte) anzustellen, und zwar an dem Tage, an welchem die sich darauf be­ziehende Handlung geschehen sollte. Hierdurch ergab sich der Gebrauch, daß man die erste Nachthälfte zum vorherigen Tage, die zweite zum folgenden rechnete, und die Mitternacht als Tagesgrenze. — Ob die


1) Gellius, Nocte Attic. III 2 (II 7): Populum autem Romanum ita, uti Varro dixit, dies singulos adnumerare a media nocte usque ad mediam proximam, multis argumentis ostenditur.Censorinus, De die nat. XXIII 3: Huius modi dies ab astrologis et civitatibus quattuor modis definitur. Babylonii quidem a solis exortu ad exortum eiusdem astri diem statuerunt, at in Umbria plerique a meridie ad meridiem, Athenienses autem ab occasu solis ad occasum. Ceterum Romani a media nocte ad mediam noctem diem esse existimarunt. — Vgl. Plinius, H. n. II 79; Macrobius, Saturn. I 3; Isidor, Etym. V 30.

[§ 169. Tageseinteilung, Stunden, Uhren. 163]

Mitternacht als Tagesanfang schon in der ältesten Zeit üblich und ob dieser Tagesanfang allgemein, d. h. volkstümlich war, kann be­zweifelt werden. Die oben zitierten Autoren haben ziemlich spät gelebt (1. Jahrh. v. Chr. bis 5. Jahrh. n. Chr.). Gegen die Vorstellung von der Allgemeinheit des mitternächtlichen Tagesanfangs hat Bilfinger Bedenken erhoben, indem er eine Menge Beispiele aus den klassi­schen Schriftstellern beibrachte, aus denen hervorgehen sollte, daß man auch einen Tagesbeginn vom Morgen hatte: die Nacht wurde entweder als ohne Datum behandelt, indem sie, je nach der auszu­drückenden Tagesstunde, zum vorher­gehenden oder folgenden Tage gerechnet wurde, oder man nahm den Morgen, den anbrechenden Tag, als Tagesanfang an. Solche Beispiele einer mehr populären Weise, den Tag vom Morgen an zu zählen, finden sich bei Cicero, Ovid, Livius. Nach Bilfinger wäre sogar diese Zählung die weitaus verbreitetere gewesen und auch im Zivilrecht beobachtet worden. Unger hat einem Teile der von Bilfinger zitierten Beispiele die Beweiskraft genommen und nur zugegeben, daß viele römische Autoren den „Lichttag“ ge­brauchen, d. h. die Zeit von der Morgen­dämmerung bis zum Nacht­eintritt (Plinius: vulgus omne a luce ad tenebras) als Tagesdauer. Wenn auch Bilfingers Annahmen zu weit gehen und eingeschränkt werden müssen, so kann man aus der Diskussion doch sehen, daß der natürliche Tagesanfang, d. h. der vom Morgen, im Volke vielfach üblich war und auch von Schriftstellern gebraucht wurde. Dieser Tages­anfang ist durch ein Beispiel sogar inschriftlich bezeugt: die Be­nutzung eines Wasserlaufs in der römischen Kolonie Lamasba (Nu­midien) wird durch eine Inschrift1 aus dem 3. Jahrh. für eine Anzahl (mit Namen angegebener) Personen nach Tagen und Stunden geregelt; aus den Daten geht hervor, daß die Stunden vom Morgen zum Morgen gerechnet werden, also der populäre Tagesanfang gebraucht ist. — Im ganzen wird man sich die Frage, welcher Tagesanfang bei den Römern üblich war, etwa so beantworten dürfen, daß für sakrale und juristische Amtshandlungen die Mitternacht als Tagesgrenze galt, daß dagegen im Volke und in der populären Ausdrucksweise mehr der Tagesanfang mit dem Morgen bekannt war.


1) Corp. Inscript. Latin. VIII, pars 1, No. 4440, S. 446; Dessau, Inscript. Lat. select. 5793.

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