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[§181. Die Ausschaltung und die Bestimmung der Festzeiten. 253]

§ 181. Die Ausschaltung und die Bestimmung der Festzeiten während der Republik.

Die oben geäußerte Hypothese hat den Vorteil, daß sie die Zeit der Einführung der Tetraëteris unbestimmt läßt; da sie annimmt, daß die Römer diesen Zyklus selbst gefunden und in der Absicht auf­gestellt haben, sich ganz von dem Mondjahre loszumachen, so kann der Übergang in die Zeit fallen, in der sie glaubten, die hin­reichenden Kenntnisse dazu zu besitzen, und dies kann, nach einem mehrhundertjährigen Gebrauch des Mondjahres, ebensogut noch unter den Königen, wie am Anfange der Republik oder erst unter den Dezemvirn der Fall gewesen sein. Die Furcht vor der geraden Zahl, ein ziemlich schwacher Grund, der von den anderen Meinungen ge­braucht wird, um das Auftreten des 355. Tages in der Tetraëteris zu erklären, bleibt bei unserer Hypothese weg, da sich die Berück­sichtigung des 355tägigen Jahres aus der früheren Zeitrechnungsform von selbst herleitet. Was schließlich die Korrektur der Tetraëteris durch periodi­sche Weglassung eines Tages betrifft, so macht die Hypothese wahr­scheinlich, daß man schon bald nach der Reform einen entsprechenden Ausschaltungs­zyklus aufgestellt haben wird. Wie oben auseinandergesetzt worden ist, konnten zu jener Zeit die Römer in der Kenntnis der Länge des Sonnen Jahres so weit sein, daß sie ohne fremde Beihilfe, aus eigener Erfahrung wußten, diese Länge möge etwas größer als 365 Tage sein. Hätten sie diese Er­fahrung noch nicht gehabt, so würde nichts geeigneter gewesen sein, sie über die Jahreslänge zu belehren, als der Gebrauch der fehler­haften Tetraëteris. Die Verschiebung der letzteren gegen die Jahres­zeiten mußte sehr bald die Unbrauchbarkeit des Systems als einer all­gemeinen Zeitrechnungsregel kund tun. Wenn Censorin an der

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früher angeführten Stelle (S. 241 Anm. 1) bemerkt, es habe lange ge­dauert, ehe man die Fehler wahrgenommen (idque diu factum priusquam sentiretur annos civiles aliquanto naturalibus esse maiores), so ist dies wahrscheinlich so zu verstehen, daß die Behörden lange Zeit gebraucht haben, ehe sie die Beseitigung des Fehlers versuchten. War man sich über die Länge des Sonnenjahres nicht klar, so wäre ein an­fängliches Schwanken in der Wahl der Mittel, die Tetraëteris zu ver­bessern, erklärlich. Was wir aus den alten Schriftstellern über die Entwicklung des Jahres nach der Zeit der Dezemvirn erfahren, gibt nicht viel Belehrung. Von denselben wird folgendes gemeldet. Livius erzählt (in der schon S. 232 Anm. angeführten Stelle) von Numa, dieser habe das Mondjahr durch Schaltungen dergestalt geordnet, daß im zwanzigsten Jahre die Tage desselben wieder mit demselben Stande der Sonne zusammenkamen, von welchem sie aus­gegangen waren, Macrobius dagegen (in der ebenfalls schon S. 241 Anm. 1 angezeigten Stelle Saturn. I 13, 13) berichtet von einem 24jährigen Zyklus, in welchem im dritten Oktennium 24 Tage fortgelassen werden sollten. Theoretisch sind beide Zyklen, wenn man das 355-, 377- und 378tägige Jahr zugrunde legt, möglich. In demselben konnten die Jahre wie folgt angeordnet werden:

Im 20jährigen Zyklus
20 . 365 14 = 7305 Tage:
Im 24jährigen Zyklus
24 . 365 14 = 8766 Tage:
11Gemeinjahre zu355Tagen =3905 13zu355Tagen =4615
7Schaltjahre 378 =2646 4378 =1512
2 377 =754 7377 =2639






7305




8766

Da die 1465tägige Tetraëteris für 20 Jahre resp. für 24 Jahre die Beträge 7325 resp. 8790 Tage gibt, so hatte man bei Anwendung des 20jährigen Schaltzyklus in je 5 Tetraëteriden 20 Tage auszulassen, was dadurch erreicht werden konnte, daß man eine 22tägige Schaltung wegließ und durch Verwand­lung von zwei 22tägigen in 23tägige zwei Tage gewann. Beim Gebrauche des 24jährigen Schaltzyklus konnte man die 23tägige Schaltung unterdrücken (im 378tägigen Jahre) und hatte dann an irgend einer Stelle des Zyklus noch einen Tag auszulassen, um auf 8766 Tage zu kommen. In dem 20jährigen Zyklus des Livius hat Aug. Mommsen den 19jährigen Metonschen Zyklus vermutet und andere (Hartmann, Unger, Soltau) haben beigestimmt; die Römer der vor­cäsarischen Zeit sollen jenen griechischen Zyklus kennen gelernt haben, und da die meisten Einrichtungen des alten Kalenders dem Numa zugeschrieben wurden, habe Livius die Einführung des Metonschen

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Zyklus in die Zeit Numas gesetzt. Gegen die vorgenannte Meinung hat sich Theodor Mommsen erklärt1.

Gewährsmänner dafür, daß der 20jährige oder der 24jährige Zyklus wirklich angewendet worden wäre, sind nicht genannt. Bei Censorin heißt es nur (s. vorher S. 254), es habe lange gedauert, bevor man Anstalten traf, den groben Fehler der Tetraëteris zu verbessern. Den Pontifices sei die Befugnis gegeben worden, als der Fehler offenkundig wurde, die Schaltung nach Gutdünken zu regeln; dadurch sei aber noch mehr Ver­wirrung entstanden2. Th. Mommsen ließ nur die Anwend­barkeit des 20jährigen und des 24jährigen Zyklus gelten, hielt es aber für ausge­schlossen, daß man den Beweis für den Gebrauch dieser oder anderer Vorschläge erbringen könne. Ein gesetzlicher Zyklus sei sicher nicht zwischen 563 und 708 u. c. (191 bis 46 v. Chr.) eingeführt worden. Man habe vielmehr versucht, durch allmähliche Änderungen mit dem Kalender in Ordnung zu kommen. Zur Zeit Catos und Ciceros (2. und 1. Jahrh. v. Chr.) war die Aufeinander­folge der Schalt- und Gemein­jahre durch keinen Zyklus reguliert, sondern vom Beschlüsse der Pontifices, vielmehr des Senates, abhängig. Sogar die Bekanntmachung der Schaltung erfolgte oft nicht zeitig genug. Es sei kaum möglich, bei dem Mangel an gesicherten historischen oder astronomischen Daten, in dem seit 563 u. c. ganz und gar willkürlich gehandhabten Kalender eine Ordnung nachzuweisen.

Die Neueren haben die Auffassung, daß der Gang des römischen Kalenders während der Republik hauptsächlich von den Willkürlich­keiten der Pontifices abgehangen habe, einzuschränken gesucht. Soltau nimmt an (wie oben S. 248 bemerkt), daß die Pontifices durch den Aberglauben, das Zusammen­fallen der nundinae mit den dies fasti vermeiden zu sollen, zu einer Tetraëteris von 1464 Tagen geführt worden sind, welche seit dem Dezemvirat existierte. In der Voraus­setzung, daß man damals die Länge des Sonnen Jahres von 365 14 Tagen schon kannte, brauchte man in 32 Jahren (8 Tetraëteriden) nur


1) Besonders Hartmann hat (Der röm. Kalender 62—65) die Hypothese vom Metonschen Zyklus vertreten; dagegen ist aber der Einwand Th. Mommsens (R. Chr. 45) sehr berechtigt, daß das Jahr des Numa kaum mit dem des Meton verwechselt worden sein kann, da den Zeitgenossen des Livius jedenfalls beide Jahrformen bekannt waren.

2) Censorin XX 6: Quod delictum ut corrigeretur, pontificibus datum negotium eorumque arbitrio intercalandi ratio permissa. 7: sed horum plerique ob odium vel gratiam, quo quis magistratu citius abiret diutiusve fungeretur aut publici redemptor ex anni magnitudine in lucro damnove esset, plus minusve ex libidine intercalando rem sibi ad corrigendum mandatam ultra quod depravarunt. — Vgl. Cicero de leg. II 12, 29 (oben S. 232 Anm.). — Plutarch, Caes. 59: (In Beziehung auf die Verwirrung des römischen Kalenders). Die Priester, die allein von der Zeit einige Kenntnisse hatten, setzten oft plötzlich, ehe sichs jemand versah, den Schaltmonat an. — Sueton, Caes. 40.

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24 Tage wegzulassen, und zwar die letzte Tetraëteris dieses 32jährigen Zyklus auf 1440 Tage abzukürzen, um mit dem Sonnenjahre in Über­einstimmung zu kommen. Den Ausgangspunkt des 32jährigen Zyklus legt Soltau in das Jahr 445 v. Chr., in die Nähe der Zeit der zweiten Dezemvirn (450 v. Chr.). Der Zyklus werde bestätigt durch die Differenz von 29 Tagen, um welche Kal. Mart. 551 (= 203 v. Chr.) dem julianischen Kalender voraus waren. Wenn nämlich die Gleichung gelte Non. Iuniae 551 = 6. Mai jul. 203 v. Chr. — d. h: wenn die Ennius-Finsternis auf den 6. Mai 203 fiel, was aber zweifelhaft ist, s. oben S. 214 — so sind Kal. Mart. 551 um 29 Tage voraus, welche Differenz durch einen 32jährigen Zyklus gerade dargestellt werden kann. Dieser Zyklus war (nach Soltau) bis zur Lex Acilia 191 v. Chr. in Geltung. Nachdem vorher das Jahr mit dem März ange­fangen hatte, wurde wahrscheinlich um diese Zeit der Jahresbeginn auf den Januar verlegt. Nach der Lex Acilia sei der 24jährige Schaltzyklus ge­braucht worden. Vom Anfangsdatum des 32jährigen Zyklus 1. März 445 v. Chr. kommen wir mit 32jährigen Zyklen auf 189 v. Chr., von welchem Jahre an (mit Januar­beginn) Soltau 24jährige Zyklen gelten läßt, deren Anfangsjahre also 189, 165, 141, 117, 93, 69, 45 v. Chr. sind. Daß das zuletzt genannte Jahr 45 v. Chr. mit Caesars Kalenderreform zu­sammenfällt und den Endpunkt der 24jährigen Zyklen bildet, darauf wird besonderes Gewicht gelegt. Aber ich kann die Kenntnis des Viertel­tags des 365tägigen Jahres, welche die Basis des 32jährigen Zyklus bildet (abgesehen davon, daß für letzteren gar keine Tradition vorliegt), für die Zeit von 450 v. Chr. bei den Römern noch nicht zugeben. Damals waren weder die Griechen noch die Babylonier, die doch, was zeit­rechnerische Systeme anbelangt, den Römern überlegen waren, schon so weit, daß sie das 365 14tägige Jahr bei der Verbesserung ihrer luni­solaren Zeitrechnung hätten anwenden können. Was die Identifizierung der Ennius-Finsternis mit dem Datum 6. Mai 203 betrifft, habe ich die astronomischen Verhältnisse bereits (S. 211 ff.) dargelegt und glaube, wir haben doch noch nicht die genügende Sicherheit, um darauf die Differenz der Abweichung des römischen Kalenders bauen und eine 32jährige Schaltperiode damit in Verbindung bringen zu dürfen. Dagegen bin ich, wenn die Erkenntnis des Vierteltages in spätere Zeit, in die Zeit nach Eudoxos gesetzt wird, in welcher wie es scheint, diese Kenntnis des 365 14tägigen Jahres sich sowohl in Griechen­land wie überhaupt in der alten Welt verbreitet hat, geneigt, die Möglichkeit der Anwendung eines 24jährigen Schaltzyklus im 3. und 2. Jahrh. v. Chr. zuzugeben.

Unger läßt die 24jährige, Schaltperiode schon mit dem Anfange der Republik ins Leben treten, da er glaubt, die Erkenntnis des 365 14tägigen Sonnenjahres in die älteste Zeit setzen zu können. Nach

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meinen bisherigen Bemerkungen über den Gang des Erkenntnis­prozesses in der Bildung der chronologischen Zeitelemente kann ich Ungers Anschauung, auf welcher seine weiteren Entwick­lungen über die Jahrform der Republik beruhen, nicht annehmen. Ich notiere nur die Hauptpunkte seiner Theorie: Der 24jährige Zyklus war schon von 497 v. Chr. an in Geltung. Der Pontifex Gaius Papirius (um 498 v. Chr.) soll den Hauptanteil an der Herstellung des Schaltzyklus haben; der Einfluß der Lehren des Pythagoras ist dabei entscheidend gewesen (!). Der 1. Martius war immer der Anfang des bürgerlichen Jahres der Republik. Durch die Dezemvirn wurde die Schaltung nicht geändert. Was Cn. Flavius betrifft, so hat dieser keinen Anteil an einer Kalender­verbesserung, er hat nur die Beschreibung des Charakters der gerichtlichen Tage (s. § 171) veröffentlicht.

Eine von den bisher erwähnten Schaltungsarten ganz abweichende Ansicht verfolgte H. Matzat. Die Grundlagen derselben bilden die Sonnenfinsternis des Ennius und die von Livius XXXVII 4, 4 zum Jahre 564 varr. erwähnte Sonnen­finsternis. Für die erstere nimmt Matzat das Datum 21. Juni 400 v. Chr., für die andere den 14. März 190 v. Chr. (s. S. 220). Die Zwischenzeit zwischen den Kal. Mart. (Jahresanfang) der beiden Jahre 400 bis 190 ist 76568 Tage. Es wird nun vorausgesetzt, daß innerhalb dieser Zeit die Tetraëteris 355 + 377 + 355 + 378 = 1465 Tage nicht unterbrochen worden sei. Wendet man diese Tetraëteris an, so konnte die obige Differenz durch 210 Kalenderjahre = 76912 Tage1 ausgefüllt werden, wenn man 76912 − 76568 = 344 Tage ausschaltete; oder es konnte die Differenz durch 209 Jahre = 76535 Tage2 dargestellt werden, wenn noch 76568 − 76535 = 33 Tage eingeschaltet wurden. Der zweite Vor­gang ist der viel wahr­scheinlichere. Um diese 33 Tage zu gewinnen, stellt Matzat ein Schaltungs­system auf, in welchem periodisch nach 3, 7, 10 Jahren ein Schalttag eingelegt wird, so daß die 209 Jahre 30—32 Schalttage fassen, die dazu gedient haben, das Zusammen­treffen der nundinae mit den Kalenden des Martius zu verhindern. Indem dann proponiert wird, 532 varr. sei der Antritt der Konsuln auf Idus Mart. (vorher Kal. Mart.) gesetzt worden, ergibt sich noch der fehlende Extraschalttag. Die Folge des Systems ist, daß der Jahres­anfang nach und nach alle Jahreszeiten durchlaufen hätte, denn er fiel

440v.Chr. aufden31.Januar
340 26.Mai
240 18.September
191 4.November

1) 1465 × 52 + 355 + 377 = 76912.

2) 1465 × 52 + 355 = 76585.

Ginzel, Chronologie II. 17

[258 X. Kapitel. Zeitrechnung der Römer.]

Das System würde danach eine Art Wandeljahr vorstellen; mit der Lex Acilia (191 v. Chr.) soll es sein Ende gefunden haben. Matzats Hypothese ist bei den Chrono­logen auf starken Widerspruch gestoßen (nur Seeck hat sie akzeptiert), wohl begreiflich, da die Voraussetzungen, der regelmäßige Wechsel der 355 + 377 + 355 + 378 Tage innerhalb mehr als 200 Jahren, und der ganz unverbürgte Extra­schalttag zu bedenklich sind. Matzat hat zwar versucht, die Einwürfe seiner Gegner zu entkräften und die Richtigkeit des Systems nachzuweisen, allein heute ist wohl keine Frage mehr, daß das Wandeljahr nicht angenommen werden kann.

Einige (Holzapfel, Lange) kamen zu dem Schlüsse, daß der römische Kalender anfänglich d. h. seit den Dezemvirn in Ordnung gewesen sei, indem man seit jener Zeit den 24jährigen Schaltzyklus ange­wendet habe. Späterhin soll man, aus Aberglauben, um das Zusammen­treffen der nundinae mit dem Neujahrstage zu verhüten (Macrobius), den Pontifices die Schaltung überlassen haben, und durch diese (nämlich durch deren politischen und anderweitigen Motive) sei der Kalen­der ganz in Unordnung geraten. Die Zeit, in welcher den Pontifices die Aufsicht über die Schaltung zugestanden wurde, fällt nach Holzapfel etwa in die Samniterkriege (um 293 v. Chr.). Die Voraussetzung, daß der Kalender Ende des 4. Jahrh. mit den Jahreszeiten überein­gestimmt hat, hängt von der Richtigkeit der Gleichung Non. Iun. = 21. Juni ab, welche aus der Annahme gezogen war, daß die Sonnenfinsternis des Ennius diejenige vom 12. Juni 391 v. Chr. sei. Später1 ist aber Holzapfel von der letzteren Finsternis abgegangen und hat aus der vom 18. Januar 402 v. Chr. die Gleichung Non. Iun. = 18. Januar gezogen. Dadurch wird die Überein­stimmung des Kalenders Ende des 4. Jahrh. wieder ganz aufgehoben.

Wie wurden nun die Festzeiten bestimmt, wenn die Schaltungen bald unter­blieben, bald wieder vorgenommen wurden, der Kalender sich also in schwan­kendem Zustande befand? Wir haben schon gesehen (S. 184 f.), daß eine Reihe von Festtagen an bestimmte Jahres­zeiten gebunden waren. Die Hilfsmittel, deren man sich zur Er­mittlung der Zeit dieser Feste in der alten Epoche, in welcher die ganze Zeitrechnung noch keine Festigkeit erlangt hatte, bedienen konnte, habe ich schon (S. 188 ff.) angegeben. Die Verfolgung des jährlichen Bogens der Sonne bei deren Aufgängen im Horizonte, sowie die Beobachtung der heliakischen und anderen jährlichen Auf­und Untergänge sehr heller Sterne genügten in der alten Zeit. In letzterer Hinsicht ist die von Kugler neuerdings gemachte Bemerkung2


1) Berl. philol. Wochenschr. X, 1890, col. 378.

2) Sternkunde u. Sterndienst in Babel, II 1, 1909, S. 88. 89.

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interessant, daß die Babylonier die heliakischen Aufgänge von Spica (α Virginis) in sehr zurück­liegender Zeit zur Regulierung ihres rohen Sonnenjahres benutzt haben. Das schon um 2000 v. Chr. für den Monat Ululu, in welchem ungefähr der Stern Spica heliakisch auf­ging, gebräuchliche Ideogramm bedeutet „Sendung (oder Botschaft) der Ištâr“ d. i. der Spica, und Spica wird als der „Verkündiger des sprießenden Getreides“ bezeichnet (davon auch das Zeichen der Ähre im Sternbilde der Jungfrau). Merkte man an dem Stande des Ge­treides und an dem noch fehlenden Aufgange der Jungfrau, daß die Jahrrechnung nicht mit der Natur stimmte, so regulierte man das Jahr durch eine entsprechende Schaltung. Es ist wohl kaum zu be­zweifeln, daß auch die Römer zur Zeit des Königtums in ähn­licher Weise mit der Regulierung ihres rohen Lunisolar­jahres vorge­gangen sein werden. Während der Republik müssen sie die Hilfsmittel zur Bestimmung der Feste, also der einzelnen Tage des Sonnenjahres ver­bessert haben. Dazu genügte die Beobachtung des Schattens von Gnomonen oder entsprechend situierten Bauwerken1 um die Zeit der Äqui­noktien. Mit Hilfe dieser Beobach­tungen (welche noch keine Kenntnis der Astronomie bedingen) kontrol­lierten die Pontifices2 den un­gefähren Gang des Sonnenjahres von einem Jahre zum andern. Vielleicht gelangten sie im 5. Jahrh. auch zur Kenntnis des Zodiakus und dessen Teilung, welche für Griechenland und den Orient wenigstens von sehr hohem Alter ist. Gerade im 5. Jahrh. sehen wir in Griechenland die auf das Sonnenjahr gegründeten Parapegmen aufkommen und nehmen Bestrebungen wahr (Gnomon- und Jahrpunkt­beobachtungen), die auf eine bessere Kenntnis des Sonnenjahres hinauslaufen und wiederum die Verbesserung der lunisolaren Zyklen zur Folge haben. Aber noch vor Metons Zeit waren sich gelehrte Griechen über die wahre Länge des Sonnenjahres nicht klar und legten den von ihnen konstruierten Zyklen (Harpalos, Oinopides, Demokritos u. a., s. § 208) ungenaue Werte des Sonnenjahres zugrunde. Ob die römischen Ponti­fices in ähnlicher Weise durch fortgesetzte Beobachtung schließlich zu einer besseren Kenntnis der Länge des Sonnen Jahres kamen, ist


1) Der Mittagschatten ändert sich zur Zeit der Äquinoktien für Rom von einem Tage zum andern merklich; man brauchte also nur um die Zeit, da man dem Äquinoktium nahe zu sein glaubte, einige Tage hindurch die Länge eines Mittagschattens zu messen und mit der in den vorigen Jahren gefundenen zu vergleichen. Man ersah daraus, ob der Kalender von der Jahreszeit abwich, und konnte ihn nötigenfalls durch Fortlassung oder Beibehaltung des 22- oder 23tägigen Schaltmonats in Ordnung halten. Vgl. auch H. Nissen, Orientation, Berlin 1910, S. 160, 299 f.

2) Wenn auch vielleicht der römische Bauer in der Zeitrechnung und der Kenntnis des Himmels nicht viel Bescheid wußte (Plinius, Hist. nat. XVIII 24, 206; Ovid, Fasti III 101), so waren sicherlich die Pontifices nicht so unwissend.

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zweifelhaft. Für die Landwirtschaft und für die Feste genügte das Vorheransagen der nötigen Tage von einem Jahr aufs andere, da die Jahre der 1465tägigen Tetraëteris doch von verschiedener Länge waren, und zu jener Vorheransage reichten jährliche Beobachtungen aus. Im 3. Jahrh., wie es scheint durch Eudoxos, drang endlich die Lehre, daß das Jahr 365 14 Tage habe, auch in Italien ein. Seit dieser Zeit ist auch die Verwendung der 24jährigen Periode möglich. Vor jener Epoche befanden sich die Pontifices wahr­scheinlich oft im Zweifel, wie sie bei der Tetraëteris mit der richtigen Ansage der Feste überein­kommen sollten. Daraus mögen sich viele Abweichungen des Kalenders von den Jahreszeiten erklären und auch die Befugnis zur willkürlichen Schaltung, die den Pontifices schließlich gegeben wurde. In den letzten beiden Jahrhunderten vor Caesar, wo sicherlich die Kenntnis des 365 14tägigen Jahres eine allgemeinere war, ver­hinderten die selbst­süchtigen Motive der Pontifices den richtigen Ge­brauch der Schaltung.

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