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XI. Kapitel.
Zeitrechnung der Griechen.

§ 191. Vorbemerkung.

Das tiefere Eindringen der Wissenschaft in das griechische Zeit­rechnungswesen, speziell in das attische, beginnt erst mit den Arbeiten von Böckh. Scaliger, Petavius und Dodwell haben die Hauptfragen, wie das Schaltungsprinzip der Zyklen, den Jahresanfang usw. festzustellen versucht; Ideler gab, auf diesen Autoren und den Quellen fußend, eine neue wohldurchdachte Gesamt­darstellung des Gebietes der griechischen Chronologie. Allein heute ist dieses Kapitel des Idelerschen Werkes, obwohl hier und da noch benutzt, gegen den Stand der Forschung ganz veraltet; insbesondere ist die Annahme, daß der Metonsche Zyklus und jener des Kallippos faktisch in der ihnen von Ideler gegebenen Konstruktion in die attische Zeitrechnung eingeführt worden seien, zweifellos zu verneinen. Kaum 20 Jahre nach dem Erscheinen des Handbuchs von Ideler kam Böckh1 durch die Zinsberechnungen aus überlieferten Urkunden zu dem Schlüsse, daß der Zyklus des Meton bis Ol. 112, 3 nicht in Athen eingeführt worden sein kann. Außer­dem schuf er wichtige Einblicke in die griechische Zeitrechnung durch seine kritische Bearbeitung der bis dahin vorliegenden In­schriften; den Kallippischen Zyklus ließ er bestehen und versuchte auch, die (damals neuen) Doppeldatierungen mit Hilfe beider Zyklen zu erklären. In den Vierjährigen Sonnenkreisen der Alten (1863) behandelte er die für einzelne Fragen wichtigen Ansätze der Jahr­punkte bei den griechischen Chronologen, die Reduktion der Zodiakal­angaben und ihre Vergleichung untereinander. Inzwischen hatte Ringk die Trizesimal-Oktaëteris Scaligers zu erneuern versucht, und Aug. Mommsen glaubte Idelers Ansicht, daß sowohl der Zyklus


1) Zur Geschichte der Mondzyklen der Hellenen (Jahrb. f. klass. Philol. Suppl. Bd. I, N. F., 1855); Epigraphisch-chronologische Studien (ebd. Suppl. Bd. II, 1856). — Diese beiden grundlegenden Abhandlungen werden von mir der Kürze wegen in der Folge als Mondzykl. I und II bezeichnet.

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Metons wie der des Kallippos sogleich nach ihrer Aufstellung an­genommen worden seien, halten zu können. Böckh bekämpfte beide Autoren, und die damals von Em. Müller (1852) und Redlich (1854) erlangten Resultate kamen dabei seiner Meinung zu Hilfe. Späterhin ist Aug. Mommsen mit seinen Schriften immer mehr in den Vordergrund getreten und hat seine früheren Ansichten geändert; in den Haupt­fragen ist er bis zu seiner Chronologie (1883) bei seinen früheren Annahmen ver­blieben. Obwohl Verschiedenes davon nicht mehr halt­bar ist, bleibt Aug. Mommsens Mitarbeiterschaft als die eines genauen Kenners der Inschriften für die Chronologie von Wert, namentlich aber sind seine Arbeiten über die griechischen Feste verdienst­voll. Von anderweitigen Beiträgen aus der damaligen Zeit sind die von Voemel, Faselius, Arn. Schäfer und Lipsius zu nennen; das Gebiet der nicht­attischen Kalender wurde von K. F. Hermann (1844) be­gründet, von Th. Bergk (1845) mit neuen Beiträgen versehen und in sehr erfolgreicher Weise in der neueren Zeit namentlich von E. F. Bischoff u. a. ausgebaut. Um 1875 entwickelte G. F. Unger neue Anschauungen über verschiedene Fragen der griechischen Zeit­rechnung, insbesondere über die von Thukydides gebrauchte Rech­nung, im Anschluß an welche er für das 5. und einen Teil des 4. Jahrh. ein System aufstellte. Dieses fand wie die wenig später von Usener entworfenen Hypothesen Widerspruch, besonders als sich (um 1883) Ad. Schmidt in die Reihe der Kämpfer gestellt hatte. Um 1886 waren die Anschauungen der Forscher so weit geklärt, daß sie in der Mehrheit darin übereinstimmten, der Metonsche Zyklus habe nur in veränderter Form und der Kallippische überhaupt keinen Eingang in die Zeitrechnung gefunden; in den Prinzipien der für diese Zyklen als Ersatz aufzu­stellenden Systeme differierten aber die Chronologen, desgleichen in den Spezialfragen. Unger vertrat un­gleiche und willkürliche Verteilung der Prytanien, während Schmidt eine gleich­mäßige Verteilung und überhaupt ungestörten Gang der Zeitrechnung behauptete, im Gegensatze zu Aug. Mommsen, welcher zahl­reiches willkürliches Eingreifen der Archonten in die Datierung annahm. Unger hat seine Meinungen wiederholt modifiziert. Wo im folgenden von der Chronologie Ungers die Rede ist, bezieht sich dies auf die von ihm zuletzt in der Zeitrechnung der Griechen u. Römer1 zusammen­gefaßte Darstellung. Letztere zeichnet sich durch Kürze und knappe Form aus, bietet aber hauptsächlich nur Ungers eigene Ergebnisse dar und nimmt nicht viel Rücksicht auf die Forschungen anderer; dadurch wird sie für den der Sache Fernstehenden nicht sehr geeignet. Ad. Schmidts Handb. d. griech. Chronol. (1888) be-


1) Handb. d. klass. Altert.-Wissensch., I. Bd., München 1892, S. 715—778.

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handelt in gründlicher (oft zu breiter) Weise alle Partien der grie­chischen (vornehmlich attischen) Chronologie ; namentlich in Beziehung auf die Inschriften bietet es bis 1886 eine nahezu vollständige Samm­lung und Erörterung derselben. Durch die Sicherheit, mit welcher dort Detailfragen vorgetragen werden, zu deren Beurteilung das chronologische Material unserer Zeit noch nicht ausreicht, darf man sich allerdings nicht täuschen lassen. Seit der Veröffentlichung der genannten Hauptwerke von Aug. Mommsen, Unger und Schmidt ist Ruhe in dem Streite der Meinungen eingetreten; zwar sind seitdem einzelne Fragen behandelt worden, unter denen die von Br. Keil (1894) über das Amtsjahr die interes­santeste war, aber eine von neuen Prinzipien ausgehende und die ganze griechische Chronologie treffende Bearbeitung hat niemand mehr versucht. Die richtige Er­kenntnis, daß die eventuelle Aufstel­lung eines neuen Systems in An­betracht der uns gegenwärtig zur Verfügung stehenden Zahl von brauchbaren oder zuverlässig ergänzten Inschriften wahr­scheinlich doch keine bessere Darstellung der überlieferten Datierungen ergeben würde, als die bisher aufgestellten Systeme, hat einen solchen Ver­such bisher zurückgehalten. Gegenwärtig scheinen sich für ein solches Wagnis günstigere Bedingungen vorzubereiten. Einerseits wird die Herausgabe der neuen Bände des Corp. Inscript. Atticarum nicht nur eine große Menge neuen Materials zutage fördern, sondern auch die sorgfältigere Bearbeitung älterer, schon früher publizierter In­schriften manche bessere Erkenntnis möglich machen. Anderseits ist die Neuzeit im Begriffe, ein für den Chronologen ungemein störendes Hindernis zu beseitigen: die Unsicherheit der Archonten­jahre des 3. und 2. Jahrh. v. Chr. Bis vor kaum 10 Jahren waren ganze Reihen von Archonten dieses Zeitraums auf Jahrzehnte unsicher. Dieser Umstand verhinderte, daß man die Inschriften auf die richtigen Jahre beziehen konnte; und dieser Umstand wiederum hat die Un­sicherheit erzeugt, ob die für das 3. und 2. Jahrh. aufgestellten chronologischen Systeme in Wirklichkeit überall zutreffen mögen. Die chronologisch dunkelste Zeit ist das 1. Jahrh. v. Chr. und darüber hinaus; hierüber hat nur Unger seine „freie Oktaëteris“ zu geben gewagt. Durch die Bemühungen einer großen Zahl von Gelehrten seit Dittenberger und Bücheler, unter welchen Th. Homolle, Kolbe, Schtschukareff u. a. zu nennen, an deren Spitze aber jetzt W. S. Ferguson und J. Kirchner zu stellen sind, hat auch das Gebiet der Fixierung der Archonten den erwünschten Aufschwung genommen und man darf voraus­sagen, daß die hier erlangten Resultate bald auch der griechischen Chronologie zugute kommen werden.

In der folgenden Darstellung des griechischen Zeitrechnungs­wesens (welche sich hauptsächlich auf die Chronologie der Athener

[§ 192. Der griechische Tagesanfang. 297]

erstreckt) habe ich das Hauptgewicht darauf gelegt, dem Leser bei den einzelnen Fragen das Für und Wider der Meinungen in den Punkten, auf die es ankommt, vorzuführen und ihn auf die Vorzüge und Schwächen der einzelnen Ansichten aufmerksam zu machen. Zu dieser Absicht ist das Studium der sehr umfangreichen Literatur nötig gewesen; letztere findet man in § 220 zusammengestellt; sie wird zur Einarbeitung in die einzelnen Spezialkapitel ausreichen. Ferner soll der Leser möglichst schnell in die praktische Anwendung der Systeme von Böckh, Ideler, Unger, Schmidt eingeführt werden, und zwar ohne daß er auf die Werke dieser Autoren zurückzugreifen braucht, zu welchem Zwecke eine größere Zahl von Tabellen in den Text eingefügt werden mußte.

Betreffs der Hilfsmittel für die griechische Chronologie bemerke ich, daß von den Schriftstellern hauptsächlich Geminos, Censorin, auch Macrobius und Lydos in Betracht kommen, ferner die historischen Tatsachen, welche Thukydides, Plinius, Plutarch u. a. berichten, wegen astronomischen Materials auch Ptolemaios. Die Hauptsache aber bildet das epigraphische Material. Die beiden Hauptwerke hierfür sind das Corpus Inscriptionum Graecarum (seit 1828) und das Corpus Inscriptionum Atticarum (seit 1873) sowie die Antiquités helléniques (1842. 1855), ferner befindet sich viel inschriftliches Material in den wissenschaftlichen Zeitschriften Bulletin de corre­spondance hellénique (seit 1877), Athenaion (seit 1872), in der Ephe­meris archaiologike (seit 1883), den Mitteilungen des Kais. Deutschen archäol. Institutes in Athen (seit 1876) u. a. O.

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