Die Frage, von welcher Tageszeit an die Griechen ihren Tag gerechnet haben, stößt auf dieselbe Schwierigkeit, die bei der Beantwortung der Frage sich dargeboten hat, welcher Tagesbeginn für die althebräische Zeitrechnung anzunehmen ist. Hier wie dort fehlt es, trotz der reichhaltigen Literatur, an klaren Aussprüchen, welche ein Urteil über den Tagesbeginn sichern können. Früher hat man, und zwar allgemein, angenommen, daß die Griechen, und nicht bloß die Athener, den bürgerlichen Tag mit dem anbrechenden Abend begonnen haben, wie die meisten Völker, bei denen der Mond der Regulator des Zeitrechnungswesens war. Diese Annahme wurde für so selbstverständlich gehalten, daß man einen besonderen Nachweis dafür als nicht nötig erachtete;
, u. a. setzen deshalb den Abend als Tagesbeginn bei den Griechen voraus und beschäftigensich nicht mit Beweisen für denselben. Um so größeres Aufsehen mußte daher die Untersuchung von
über den bürgerlichen Tag der Griechen erregen, welcher aus einer eingehenden Behandlung zahlreicher Literaturstellen den Schluß zog, daß nicht der Abend, sondern der Morgen als Tagesanfang bei den Griechen gewählt worden sei. Dieses Resultat schien durch die Folgerungen von unterstützt zu werden, welcher schon früher, unter gewissen Einschränkungen, die morgendliche Epoche als Tagesbeginn für die älteste Zeit der Griechen hingestellt hatte und den Übergang zur abendlichen Epoche ungefähr in die Zeit verlegen wollte. Indessen gehen Ausführungen zu weit und sind von nachdrücklich bekämpft worden. Da es bei dieser Kontroverse hauptsächlich auf die Definition des Tagbegriffes ankommt, dieser aber in den Werken der griechischen Schriftsteller meist nicht klar erkennbar ist, so haben die beiden genannten Gelehrten öfters aus ein und derselben Stelle einander entgegengesetzte Resultate gezogen.Was zuerst die älteste Zeit betrifft, so haben wir nur einige Verse der Iliade Ἔργα angehängte Kalendergedichte zur Verfügung. zählt die Tage nach Morgenröten (ἠώς), z. B. ἠώς δωδεϰάτη = der zwölfte Morgen (Il. XXI, 80), d. h. er kennt nur den „Lichttag", welcher mit der Morgendämmerung anfängt und mit der Abenddämmerung zu Ende geht. Da es sich hier nur um einen populären Sprachgebrauch handelt, kann man auf die Art des Tagesbeginns (kalendarisch) keinen Schluß ziehen. Auffälliger könnte scheinen, daß Homer die Verbindung „Nacht und Tag“ öfters gebraucht1 als die umgekehrte „Tag und Nacht“, woraus man also auf den Tagesbeginn mit dem Abend zu schließen versucht wäre. Jedoch kann dies gleichfalls auf den Sprachgebrauch in Ionien zurückzuführen sein. wenigstens behandelt dieses Argument als „unbrauchbares Material“. Hauptsächlich für den Abendanfang des altgriechischen Tages wird die Stelle Iliad. XIX 140 beigebracht2, wo es bei der Absendung der Gesandtschaft zur Versöhnung mit Achill heißt: „Ich bin bereit alle Geschenke zu geben, welche dir gestern versprochen hat“. Der Ausdruck χϑιζὸς (gestern) wird von vielen so verstanden, daß die Nacht vor dem jüngstverflossenen Lichttage meine und diese Nacht mit dem Lichttage zu einem Tage zusammenziehe, also Abendanfang des Tages vorauszusetzen sei. und dagegen
und den1) Νύϰτας (νύϰτες) τε ϰαι ἦμαρ (ἤματα, ἡμέραι), νυϰτός τε ϰαὶ ἤματος.
2) Δῶρα δ᾽ ἐγὼν ὅδε πάντα παρασχεῖν, ὅσσα τοι ἐλϑὼν χϑιζὸς ἐνὶ ϰλισίῃσιν ὑπέσχετο δῖος Ὀδυσσεύς. Der Scholiast: φαίνεται οὖν εἰδὼν προυποστᾶσαν τὴν νύϰτα τῆς ἡμέρας.
wollen die genannte Stelle durch verschiedene Einwande entkräften. Was Ἔργα 8201 zweifelhaft, jedoch sei für die Monatstage des schen Kalender überall die „Tagnacht“ anzunehmen, d. h. der Beginn des Kalendertages mit dem Morgen. Demnach wurde zu Homers und s Zeit, d. h. im 9. oder 10. Jahrh. v. Chr. bei den Griechen der Tag mit dem Morgen begonnen worden sein. Der Übergang zum Tagesbeginn mit dem Abend sei erst eingetreten, nachdem die Griechen sich vom Sternkultus (welcher die morgendliche Epoche erforderte) losgesagt hatten und zum Mondjahr übergingen. Diesen Übergang konne man für Athen in die Zeit des (6./7. Jahrh. v. Chr.), für das übrige Griechenland in eine frühere Zeit setzen. Obwohl nun die Griechen in der Urzeit eine Naturreligion hatten, die mit der Zeit sich verändernde Kulte mit sich brachte, so ist doch die Rechnung nach dem Monde schon in die ganze historische Epoche Griechenlands zu setzen (s. § 195. 204 ff.). Die Voraussetzung des rohen Lunisolarjahres erfordert aber den Tagesbeginn mit dem Abend, und es ist daher nicht recht glaublich, daß die Epoche des Tagesbeginns zu Zeiten s und s noch der Morgen gewesen und die Abendepoche erst im 7. Jahrh. eingeführt worden sein sollte, um so weniger, als sich deutliche Spuren des Mondjahres schon bei und vorfinden (s. § 195). Bedenkt man, daß die Werke dieser Dichter einer Zeit angehören, in welcher die griechische Zeitrechnung noch auf den ersten Entwicklungsstufen war, in denen der kalendarische Begriff des Tages bei weitem noch nicht so scharf gefaßt sein konnte wie in späterer Zeit, und daß die metrischen Formen notwendigerweise Unsicherheiten für die Interpretation der Texte mit sich bringen, so wird man die Aufstellung der Morgenepoche für die alte Zeit nicht für ganz bewiesen ansehen können. u. a. sind deshalb bei der Annahme geblieben, das die Griechen schon im 9. Jahrh. den Tag vom Abend an aufgefasst haben.
anbelangt, so ist nach die öfters zitierte StelleFür die nachhomerische Zeit hat
verschiedene Beispiele zitiert, aus welchen der Tagesbeginn mit dem Abend hervorgeht. Die meisten derselben hat zu bekämpfen versucht. Ich muß mich hier darauf beschränken, nur eines der Zitate2 hervorzuheben.1) Παῦροι δ᾽ αὖτε μετ᾽εἰϰάδα μηνὸς ἀρίστην ἠοῦς γιγνομένης ἐπὶ δείελα δ᾽ ἐστὶ χερείων. „Wenige (wissen), daß der 24. morgens recht günstig, nachmittags schlechter ist.“ Nach dem Scholiasten grenzt der 24. Tag mit seinen Nachmittagsstunden an den 25. Tag, danach beginnt den letzteren mit dem Abend. Die späteren Scholiasten setzen jedoch den Tagesbeginn mit Abend für ganz Griechenland voraus.
2)
, Aristid. 20 (Inschrift v. Plataia); VII 54; , Cyrop. VIII 3, 9; IV 31; XVI 92 u. a.Nach den königlichen Tagebüchern Alexander des Gr. ( Ἐφημερίδες βασίλειοι) fand der Tod Alexanders am 28. Daisios (τῇ τρίτῃ φϑίνοντος πρὸς δείλην) statt; der Grieche (aus Kassandreia) dagegen setzt den Tod ( , Alex. 75. 76) τριαϰάδι Δαισίου μηνός1 auf den letzten Tag des Daisios, d. h. auf den 29. Daisios. Die Abweichung der beiden Daten voneinander erklärt sich daraus, daß in der makedonischen Datierung der Abend (δείλη der späte Nachmittag oder der Abend selbst bis zur einbrechenden Nacht) noch zum 28. Daisios, in der griechischen Datierung, welche von eben diesem Abend ausging, aber bereits zum 29. Daisios gehörte, hat ferner Stellen gesammelt, in welchen ὑστεραία nur den mit Abend anfangenden Tag bedeuten kann. bekämpft auch diese Stellen und will nachweisen, daß die Volltage bei den Griechen vom Morgen zum Morgen gerechnet seien, eine Behauptung, die am wenigsten glücklich durch den Einwand gestützt wird, daß der Anfang des Volltages mit Abend nur bei jenen Völkern möglich gewesen sei, die ihren Monatsanfang durch die unmittelbare Beobachtung der neuen Mondsichel bestimmten; die Griechen seien dazu nicht zu rechnen, denn diese hätten seit uralter Zeit die Oktaëteris gehabt und ihre Mondmonate zyklisch bestimmt. Aber die Oktaëteris ist bei den Griechen zwar alt, aber nicht uralt, und anderseits haben bekanntermaßen alle Völker, die mit ihrem Zeitrechnungssysteme dem Lunisolarjahre zustrebten, den vielhundertjährigen Weg der direkten Beobachtung des Neulichtes gehen müssen, ehe sie zu einer zyklischen Vorausbestimmung der Neumonde und der daran geknüpften Monatsanfänge gelangen konnten. — Bei (Noct. att. III 2) heißt es in einer von gemachten Zusammenstellung der Tagesanfänge verschiedener Völker: Athenienses autem aliter observare idem Varro in eodem libro scripsit, eosque a sole occaso ad solem iterum occidentem omne id medium tempus unum diem esse dicere. Ähnlich 2 und 3. Die letzteren beiden folgen in ihren Angaben vielleicht ; hat wahrscheinlich gemacht, daß mehrere ältere selbständige Quellen für und in Betracht kommen dürften. Besonders hebt er mit Recht hervor, daß, selbst wenn die einzige Quelle jener Autoren gewesen wäre, das Zeugnis des hinreichend ist, denn dieser hat Griechenland besucht, und außerdem
1) S. die Dekadenzählung unten § 195.
2) Hist. nat. II 79: Diem alii aliter observavere .... Athenienses inter duos occasus.
3) De die nat. XXIII 3: Huius modi dies ab astrologis et civitatibus quattuor modis definitur. Babylonii quidem a solis exortu ad exortum eiusdem astri diem statuerunt, at in Umbria plerique a meridie ad meridiem, Athenienses autem ab occasu solis ad occasum.
lebten in Rom damals so viele Griechen, daß er die Nachricht über den Tagesanfang hätte bei diesen selbst einholen können. — Bei den im 1. Jahrh. v. Chr. lebenden διχομηνία) führt, eintreten.“ Die διχομηνία ist der Tag, welcher den Monat in zwei Hälften teilt, der Vollmondstag. Die Mondfinsternisse finden in der Nacht, die zu diesem Tage führt, statt; die διχομηνία bestand also, als Volltag genommen, aus jener Nacht und dem darauf folgenden Lichttag, d. h. der Vollmondstag wird hier vom Abend an gerechnet.
finden sich einige Sätze, aus denen man nur indirekt ein Zeugnis für den griechischen Tagesanfang entnehmen kann. An einer Stelle1 sagt er, „daß die Griechen die Jahre in Übereinstimmung mit der Sonne, die Tage und die Monate in Übereinstimmung mit dem Monde gehalten“ haben. Hier ist nur vom Lunisolarjahre, welches eben die von der Sonnenbewegung abhängenden Jahreszeiten mit den Mondmonaten in Übereinstimmung bringen will, die Rede. Da die Monate nach dem Monde gerechnet werden sollen, so muß ihr Anfang an den Eintritt der Neumonde geknüpft sein. Die Abendepoche des Tagesanfangs kann man nur indirekt aus dem genannten Satze folgern, indem man annimmt, daß aus dem Beginne des ersten Monatstages mit dem Erscheinen des Neulichtes, d. h. mit dem Abend, die Abendepoche aller übrigen Tage von selbst folgt. An einer anderen Stelle2 bei ist nur von der Definition des Lichttages und des Volltages die Rede: „Unter Tag versteht man zweierlei; einmal die Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, zweitens aber versteht man unter Tag die Zeit von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten.“ Entscheidender ist die Bemerkung, welche bei dem Nachweis gemacht wird, daß man die Tage genau nach dem Monde rechne3: „während die Mondfinsternisse in der Nacht, die zur Monatsmitte (Wir können also im ganzen annehmen, daß, wenn auch in der ältesten Zeit der Tag von dem Morgen an gerechnet worden sein sollte, so doch in der ganzen historischen Epoche der Athener und der Griechen überhaupt der kalendarische Tagesanfang der Abend gewesen ist. Erst spät, als das Lunisolarjahr verlassen wurde und das julianische Jahr Eingang fand, verfiel auch der Abend als Tagesepoche und machte dem Morgen Platz. Daraus erklärt es sich, daß wir bei mittelalterlichen Schriftstellern, wie
, und1) Εἰσαγωγή VIII 7. (Ich zitiere überall in dem vorliegenden Werke die Kapitel nach der -Ausgabe 1898).
2) VI 1: Ἡμέρα λέγεται διχῶς, ϰαϑ᾽ ἕνα μὲν τρόπον ὁ ἀπ᾽ ἀνατολῆς ἡλίυ μέχρι δύσεως, ϰαϑ᾽ ἕτερον δὲ τρόπον ἡμέρα λέγεται χρόνος ὁ ἀφ᾽ἡλίου ἀνατολῆς μέχρις ἡλίου αὖϑις ἀνατολῆς.
3) VIII 14: τὰς δὲ τῆς σελήνης ἐϰλείψεις νυϰτὶ τῇ φερούσῃ εἰς τὴν διχομηνίαν (γίνεσϑαι).
bei den orientalischen (
u. a.) als Epoche des Tagesanfangs der Griechen den Morgen angegeben finden.Was die nähere Bestimmung der Abendepoche betrifft, so wird man, wie ein Vergleichen mit anderen Völkern lehrt, welche ebenfalls ihre Zeit nach dem Monde rechnen, den Tag allerdings nicht mit dem Moment des Sonnenuntergangs selbst, sondern vielmehr mit der Zeit der Dämmerung begonnen haben. Die alten Schriftsteller kennen den Unterschied zwischen der bürgerlichen und der astronomischen Dämmerung (s. I 22) noch nicht, aber es kann angenommen werden, daß man als Abend die schon vorgeschrittene Dämmerung, in welcher schwächere Sterne am Himmel hervortreten (also die astronomische Dämmerung), angesehen hat. Es kann bisweilen, z. B. bei der Beurteilung der Zeit von überlieferten Vorkommnissen, die in den beginnenden oder vorgeschrittenen Abend oder Morgen gesetzt werden, von Interesse sein, die Dauer der astronomischen Dämmerung in Griechenland für gegebene Tage zu kennen. Die folgende Tafel1 liefert diese Dauer für die geogr. Breite von Athen in Intervallen von je 10 Tagen:
1. | Jan. | 1h | 28m | 10. | Mai | 1h | 34m | 7. | Sept. | 1h | 25m |
11. | „ | 1 | 25 | 20. | „ | 1 | 38 | 17. | „ | 1 | 23 |
21. | „ | 1 | 24 | 30. | „ | 1 | 40 | 27. | „ | 1 | 21 |
31. | „ | 1 | 22 | 9. | Juni | 1 | 42 | 7. | Okt. | 1 | 21 |
10. | Febr. | 1 | 22 | 19. | „ | 1 | 44 | 17. | „ | 1 | 21 |
20. | „ | 1 | 21 | 29. | „ | 1 | 45 | 27. | „ | 1 | 21 |
1. | März | 1 | 21 | 9. | Juli | 1 | 44 | 6. | Nov. | 1 | 22 |
11. | „ | 1 | 21 | 19. | „ | 1 | 41 | 16. | „ | 1 | 23 |
21. | „ | 1 | 21 | 29. | „ | 1 | 37 | 26. | „ | 1 | 25 |
31. | „ | 1 | 22 | 8. | Aug. | 1 | 34 | 6. | Dezbr. | 1 | 26 |
10. | April | 1 | 24 | 18. | „ | 1 | 30 | 16. | „ | 1 | 27 |
20. | „ | 1 | 27 | 28. | „ | 1 | 26 | 26. | „ | 1 | 27 |
30. | „ | 1 | 30 |
Mit Hinzuziehung der Tafel S. 166 würde man z. B. für Athen und den 15. Mai die Dauer der astronomischen Dämmerung 1h 36m, und die Zeit des Sonnenuntergangs an diesem Tage = 6h 57m w. Zt. haben; die Dämmerung dauert also bis 6h 57m + 1h 36m = 8h 33m, und um letztere Zeit treten die schwächeren Sterne hervor.
1) Die Tafel ist mit den Grundlagen berechnet, welche der Tafel der halben Tagbogen (S. 166) zugrunde liegen. Ferner ist die Depression der Sonne beim Ende der astronomischen Dämmerung zu 15,8° angenommen; s. hierüber unter „Nachträge“ am Schluß dieses Bandes, ad Bd. I. S. 22.
Bei der Vergleichung einer griechischen Datierung mit einer julianischen wird man, da bei letzterer der Tag um Mitternacht anfängt, ein doppeltes julianisches Datum nötig haben: der eine julianische Tag enthält den Anfang, der andere das Ende des griechischen Tags. Findet man in der Literatur eine griechische Datierung nur durch einen julianischen Tag ausgedrückt, so wird man beachten müssen, in welchem Sinne der Autor die letztere verstanden wissen will.