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[§ 193. Tageseinteilung, Stunden, Uhren. 303]

§ 193. Tageseinteilung, Stunden, Uhren.

Die Griechen hatten, solange sie sich in einfachen Kulturver­hältnissen befanden, gleich anderen Völkern auf dieser Stufe, keine eigentliche, bestimmte Teilung des Tages, sondern nur Benennungen, welche ungefähr die Zeiten des Tags oder der Nacht angaben. Die lichte Hälfte des Tags wird bei Homer (Il. XXI 111) schon deutlich in drei Teile geschieden: ἠώς (Morgendämmerung), μέσον ἦμαρ (der mittlere Teil des Tages) und δείλη (Abenddämmerung); auch deutet Homer die Zeit des Tages durch Nennung täglich wiederkehrender Handlungen (z. B. Mahlzeiten) an. Der eigentlichen Nacht geht bei ihm voran ἕσπερος (der Abend, ἑσπέρα gebraucht Homer noch nicht), welcher Ausdruck von dem, für bestimmte Jahresteile charakte­ristischen Erscheinen des Planeten Venus am Abendhimmel hergenommen ist; auf die Nacht folgt ἀμφιλύϰη νύξ (das Zwielicht des Morgens); auf eine ungefähre Teilung der Nacht deuten die drei μοῖραι1 (Il. X 251; Od. XII 312), welche nach dem Stande gewisser Sternbilder am Nacht­himmel angenommen wurden. Die Begriffe für die Tages­einteilung entwickelten sich auch weiterhin langsam. Bei Herodot treten auf: ὄρϑρος (der grauende Morgen, die Zeit des ersten Hahnenschreies, die Zeit zum Aufstehen), ἀγορῆς πληϑυούσης (der Vormittag, die Marktzeit, nämlich die Zeit, in der man sich auf dem Markte aufhielt zu Ein­käufen o. dgl.2), μεσαμβρίη (gr. μεσημβρία), der Mittag), ἀποϰλινομένες τῆς ἡμέρης (das Sichneigen des Tages). Der im 4. Jahrh. v. Chr. lebende Theophrastos unterscheidet (περὶ σημείων 9): πρωί (die Frühzeit), μεσημβρία und δείλη (Nachmittag). Den letzteren unterschied man aber später in δείλη πρωία, früher Nachmittag, und δείλη ὀψία, später Nachmittag, so daß δείλη den ganzen Nachmittag bis zum Abend bedeutet und noch bis über die Dämmerung ausgedehnt werden kann. Für die Abenddämmerung


1) μοῖρα = der Teil (des Ganzen), später bei den Astronomen (Ptolemaios) der Grad.

2) Also etwa das zweite Viertel des Lichttages; nicht (wie Ideler I 228, A. 4 angibt) die Zeit von Volksversammlungen allein am Vormittag.

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hatte man auch späterhin den oben erwähnten Ausdruck ἑσπέρα, für die Morgendämmerung ἕως (ion. ἠώς). Die ersten Stunden der Nacht werden bisweilen als Zeiten „des Lichtanzündens“ und als Zeit „des ersten Schlafes“ bezeichnet; μέσαι νύϰτες gilt für etwa das zweite Drittel der Nacht. Außer diesen Bezeich­nungen existierten im Sprach­gebrauche selbstverständlich noch viele andere Ausdrücke, welche die einzelnen Teile des Tages und der Nacht charakterisierten. Bei dem im 2. Jahrh. n. Chr. lebenden Pollux findet man (Onom. I 68 f.) eine Reihe solcher Bezeichnungen ange­geben: μεσούσες ἡμέρας, περὶ μεσημβρίαν, ἡλίου ὑπέρ ϰεφαλῆς ἱσταμένου usw. Daß man sich, um die Zeiten der Nacht zu unter­scheiden, auf die Stellung der Gestirne verließ, geht z. B. aus dem Gedichte des Aratos hervor. Die Kenntnis des Sternhimmels scheint im Volke ziemlich verbreitet gewesen zu sein. Man beurteilte aus der Zeit, wann in einer bestimmten Jahreszeit abends ein Gestirn über den Horizont stieg, oder eine gewisse Höhe erreichte, oder auch nach einer Periode der Unsichtbarkeit wieder am Abend- oder Morgenhimmel sichtbar wurde, die Teile der vor­wärts schreitenden Nacht.

Den Anlaß zu einer wirklichen Teilung der Nacht dürften die Ablösungen der Wachen im Feldlagerdienste gegeben haben. Da man den Wechsel der Wachen in regelmäßigen Zeitabständen vornehmen wollte, so teilte man die Nacht in vier Intervalle (φυλαϰαί), vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang, so daß also eine Nacht­wache etwa 3 Stunden dauerte, je nach der Jahreszeit aber länger oder kürzer war. Zur Abmessung der Wachen diente die Wasser­uhr (ϰλεψύδρα). Auch bei den attischen Gerichten wurden die Wasseruhren verwendet, um den Parteien bei den Verhandlungen die Zeit zum Sprechen zuzuteilen, ein Brauch, der sich nach Rom über­trug (s. o. S. 167 f.). Die ϰλεψύδραι waren anfänglich sehr primitive Vorrichtungen. Sie bestanden aus einem mit Wasser gefüllten Ge­fäße, aus welchem durch eine oder mehrere im Boden befindliche Öffnungen das Wasser in einen darunter stehenden Auffangbehälter floß. Der Veränderlichkeit der Tag- und Nachtdauer suchte man dadurch Rechnung zu tragen (Klepsydra des Äneas), daß man die Ausflußöffnung durch Einstreichen von Wachs, dessen Menge empirisch ermittelt wurde, verengte oder durch Herausnehmen vergrößerte. Später bediente man sich bei der Regulierung des Wassers eines kegelförmigen Zapfens. Auch die Nachtuhr, welche nach Athenaios (3. Jahrh. n. Chr.) schon Plato verfertigt haben soll, dürfte eine solche Klepsydra, etwa versehen mit einer Weckvorrichtung, gewesen sein (Plato wollte durch die Klepsydra, wenn ein bestimmtes Wasser-


1) Deipnosophistai IV 174.

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quantum derselben abgelaufen war, geweckt sein). Diese Vorrichtungen kann man jedoch alle nicht als Uhren, d. h. als Zeitmessungsinstrumente ansehen, da keine von ihnen den Tag oder die Nacht als Einheit zu­grunde legt und keine Stundenteilung derselben führt. Erst die Apparate, die in der alexandrinischen Zeit konstruiert wurden, ver­dienen den Namen Wasseruhren. Man baute z. B. durchsichtige Gefäße, welche eine horizontale und eine vertikale Teilung hatten; die erstere galt für die Zeiten des Jahres (etwa die monatlichen Stände der Sonne), die andere für die Stundenlinien, welche den Wasserständen bei gleichmäßigem Zufluß des Wassers an einzelnen Tagen entsprachen. Oder man benutzte einen Schwimmer aus Kork, der auf dem Wasser schwamm und mit ihm auf und ab sank, zur Bewegung einer Skala. Nach dieser Idee war die Wasseruhr des Ktesibius, (Vitruv, De archit IX 9) gebaut, bei welcher eine mit dem Schwimmer in Verbindung stehende gezahnte Stange in einen Mechanismus eingriff, welcher die Stunde anzeigte; die Uhr konnte auch für die Veränderlichkeit der Stunden eingestellt werden.

Der geringe Anspruch, welchen die Griechen an die tägliche Zeitmessung stellten, geht auch aus der Tatsache hervor, daß sie sehr lange mit der geringen Genauigkeit zufrieden waren, den die An­wendung des Schattenmaßes ergab. Aus verschiedenen Zeugnissen, die sich bei attischen Schriftstellern finden, geht hervor, daß die Athener gewisse Tageszeiten durch die Länge des Schattens angaben, den der menschliche Körper bei aufrechter Stellung auf den ebenen Erdboden wirft. Besonders die Tageszeit des Essens oder Gastmahls wurde durch die Länge eines solchen Schattens bestimmt; die Aus­drücke für die letztere sind σϰιά und στοιχεῖον. Bei Aristophanes (Ekklesiazusen 652) heißt es: „Du hast keine andere Sorge, als ge­salbt und gebadet zum Essen zu gehen, wenn das Stoicheion zehn Fuß mißt.“ Der Scholiast merkt hierzu an: „Wenn man sich zu einem Essen bestellte, so bezeichnete man die Tageszeit durch die Länge des Schattens; eine andere Methode, die Tagesstunde zu be­zeichnen, kannte man damals noch nicht.“ Hesychius sagt (unter σϰιάς: „An dem Schatten des Körpers nahm man die Stunden wahr", und (unter ἑπτάπους σϰιά): „Man maß die Schatten mit den Füßen, um die Stunden zu erkennen.“ Bei Lukianos (Somnium s. Gallus IX) sieht ein Mann, der die Zeit zu einem Hochzeitsschmaus nicht er­warten kann, unablässig nach dem Stoicheion usw. Bei anderen Schriftstellern finden sich sechs-, sieben-, zwölf- und zwanzigfüßige Schatten erwähnt. Der Ausdruck στοιχεῖον, der sich auf den Schatten oder auf die Länge desselben bezieht, ist nach Bilfinger abzuleiten von στείχω = schreiten, was wahrscheinlich richtig ist, da man die Schattenlänge durch Abschreiten mit dem Fuße maß. In einer von

Ginzel, Chronologie II. 20

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Salmasius angeführten Stelle1 aus einem späteren Griechen heißt es: „Du mußt die Stunden aus deinem Schatten abnehmen, indem du die Länge desselben mit deinen Füßen ausmißt, einen vor den anderen hinsetzend bis zu der Stelle, wohin bei vertikaler Richtung deines Körpers der Schatten deines Scheitels trifft.“ Dabei nahm man wahrscheinlich ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Länge des Fußes und der Höhe eines Mannes an, vielleicht das Verhältnis 1 : 6. Da aber die Länge des Schattens eines aufrecht stehenden Gegen­standes mit der jeweiligen Sonnendeklination, d. h. mit der Jahreszeit sich verändert, so müßte für einen bestimmten Ort, wenn sich der Ausdruck Stoicheion nur auf die Essenszeit bezieht, man also eine gleichbleibende Schattenlänge voraussetzt, die Zeit des Essens sehr geschwankt haben. Ein zwölffüßiger Schatten variiert z. B. für Athen vom kürzesten bis zum längsten Tag um 3h 47m. Es ist daher wahrscheinlicher, daß man die Essenszeit sowie häusliche und auch gewerbliche Verrichtungen mit verschiedenen Schattenlängen ver­knüpfte, die den Jahreszeiten gemäß angesetzt wurden. Hierdurch würden die verschieden­füßigen Stoicheia erklärt sein, von denen bei den Schrift­stellern die Rede ist. Man kann sich auch denken, daß der gemeine Mann in der Beurteilung der Tageszeit nach dem Stoi­cheion viel Übung hatte und daß also diese rohe Zeitbestimmung allgemein in Griechenland (und der alten Welt) populär war. Etwas genauer wurde diese Bestimmung, als man an Stelle des menschlichen Körpers als Schattenwerfer den unveränderlichen Gnomon aufstellte. Derselbe bestand aus einer senkrechten, oben zugespitzten Säule, um deren Fußpunkt auf horizontaler Ebene konzentrische Kreise liefen, welche die Richtung des Mittagschattens enthielten. Von solchen πόλος und γνώμον spricht schon Herodot, nach welchem2 die Griechen nicht nur die Sonnenuhren, sondern auch die Stundenteilung des Tages von den Babyloniern erhalten haben sollen. Die Bedeutung der Ausdrücke πόλος und γνώμον ist nicht zweifelfrei, aber jedenfalls gehören sie zusammen und beziehen sich auf eine der Vorrichtungen zur rohen Zeitmessung, die auf der Messung der Schattenlänge be­ruhen und deren die Griechen mehrere Arten gehabt haben. Allein auch der Gnomon ist nur ein ungenügender Apparat, da er zwar die vorgeschrittenen Intervalle des Tages messen, nicht aber die Messung bis zu den wirklichen Anfangs- und Endzeiten des Tageskreises,


1) Exercit. Plin. in Solin., p. 455: Δεῖ σε τοιγαροῦν σημειοῦσϑαι τὰς ὥρας μετροῦντα τὴν σεαυτοῦ σϰιὰν τοῖς ἰδίοις ποσὶν ἐν τῷ μετατιϑέναι ἕνα πόδα, ἕως τοῦ τόπου ἔνϑα ἔτυχε τὸ ἄϰρον τῆς ϰεφαλῆς σου ἐν τῷ ἵστασϑαι σε ὀρϑὸν ϰαταντῆσαν διὰ τῆς σϰιᾶς.

2) II 109: Πόλον μὲν ϰαὶ γνώμονα ϰαὶ τὰ δυώδεϰα μέρεα τῆς ἡμέρης παρὰ Βαβυλωνίων ἔμαϑον οἱ  Ἕλληνες.

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den Zeiten des Sonnenauf- und Unterganges, ausführen läßt : der Gnomon wurde daher weniger ein praktisches, als vielmehr ein astronomisches Instrument (zur Bestimmung der Jahrpunkte und der Schiefe der Ekliptik). Da es sich bei den Griechen um die Bestimmung der veränderlichen Stunden (ὧραι ϰαιριϰαί) handelt, d. h. um die von der Länge des Tag- und Nachtbogens abhängenden, also im Laufe des Jahres in der Länge variierenden Stunden (s. I 95), so waren die Griechen vor die Aufgabe gestellt, die Schattenkurve, welche ein nach dem Zenit gerichteter Gegenstand im Laufe des Tags beschrieb, in gleiche Teile zu teilen. Die aus diesem Bestreben hervorgegangenen Sonnenuhren (ὡρολόγια ἡλιαϰα, σϰιοϑηριϰά), obwohl in der Kon­struktion hier und da voneinander abweichend, projizieren den Schatten des senkrechten Schattenstiftes auf eine gekrümmte Fläche (Halbkugel oder Konus), auf welcher also der Schattenpunkt in ent­gegengesetzter Richtung läuft wie die Sonne an der Himmelshalbkugel. Eine solche antike Sonnenuhr (s. a. oben S. 168 f.) enthält auf der ge­krümmten Fläche die Hauptkurven, nämlich für Winter- und Sommer­solstiz und Äquinoktium, sowie die Stundenlinien, welche sich mit den Hauptkurven schneiden. Diese Uhren kamen aber erst im 2. oder 3. Jahrh. v. Chr. auf. Da die früher gebrauchten Apparate, wie oben angedeutet wurde, zu einer eigent­lichen Stundenteilung des Tages noch nicht hinreichend waren, so muß man zu der Annahme kommen, daß die Einführung der Stunden in Griechenland einer ziemlich späten Epoche angehört. Zwar sollen nach der oben erwähnten Herodot-Stelle die Griechen schon von den Babyloniern die Zwölfteilung des Tageskreises erhalten haben. Dann ist es aber befremdlich, daß sich die Griechen so lange mit rohen Apparaten begnügten und erst spät die theoretisch erlernte Zwölfteilung bei den Sonnenuhren ins Praktische umsetzten. Dieser Umstand deutet darauf hin, daß die Teilung des Tages in Stunden sich bei den Griechen erst spät entwickelt hat. Hierzu stimmt, daß der Begriff ὥρα als „Stunde“ ehemals bei den Griechen ein viel weiter gedehnter, als der eines nur geringen Zeit­abschnittes, war. ὥρα bedeutete überhaupt den Zeitbegriff, den Winter, den Frühling, irgendeine für etwas bestimmte Zeit usw. In der ganzen Literatur vor Alexander ist der Begriff ὥρα als „Stunde" noch nicht vorhanden. Herodot spricht (in der oben zitierten Stelle) nicht von Stunden, sondern von 12 Teilen (μέρεα) des Tages. Später erhielt ὥρα die Bedeutung der Zeit eines Tagesteils oder der Tageszeiten (ὥραι τῆς ἡμέρας). Xenophon spricht von der ὥρα des Jahres, des Monats und des Tages, die man durch die Astronomie er­fahren könne, oder von der ὥρα, die man mittels der Sonne oder der Sterne finde. Erst mit der Erfindung der Sonnenuhren, im alexandri­nischen Zeitalter, machten jene unbestimmten Begriffe einer bestimmten

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Definition Platz; da nun die Stundenteilung des Tages durchgeführt werden mußte, wurde ὥρα zum passenden Worte, um das Tageszwölftel damit zu bezeichnen. In dieser Bedeutung gebraucht das Wort der Astronom Hipparch (um 140 v. Chr.) im Almagest; nach Bilfinger kommt es aber schon früher, bei Pytheas von Massilia (Zeitgenosse Alexanders d. Gr.) vor. Während die ὧραι ϰαιριϰαί durch die Sonnen­uhren in den Gebrauch des täglichen Lebens übergingen, schufen sich die Astronomen, für welche bei den Beobachtungen veränderliche Stunden sehr unbequem waren, die ὧραι ἰσημεριναί, die gleich langen Stunden. — Bilfinger hat, wie früher (s. S. 167) bemerkt wurde, für die römischen Klassiker nachgewiesen, daß die Stundenangaben derselben im Sinne von abgelaufenen Stunden zu verstehen sind. Auch bei den Griechen findet sich diese Nachdatierung mittels der Ordnungszahlen; ob indessen in den zweifelhaften Fällen die Zeit­angabe überall als abgelaufene Stunde aufzufassen ist, bleibt un­entschieden.

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