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[§ 195. Der Monat; Zählung der Monatstage nach Dekaden. 315]

§ 195. Der Monat; Zählung der Monatstage nach Dekaden.

Der Monat (μήν) ist bei den Griechen seit den ältesten Zeiten lunarisch, d. h. auf die Mondbewegung gegründet. Jedoch ist von Anfang an dasselbe Streben zu bemerken, welches wir in den bis­herigen Kapiteln bei den meisten Kulturvölkern vorgefunden haben, nämlich die Mondzeitrechnung mit den gleichen Jahreszeiten in Ein­klang zu bringen wegen der Opfergaben, die zum Götterdienste notwendig waren und eben an gewisse Jahreszeiten gebunden sind. Es tritt also in den Anfängen der griechi­schen Zeitrechnung schon die Richtung auf die Entwicklung eines Lunisolarjahres hervor.

[316 XI. Kapitel. Zeitrechnung der Griechen.]

Der Ursprung des griechischen Lunisolarjahres liegt daher im Kultus. Dies bestätigt uns Geminos, welcher sagt1: „Es geschah vorsätzlich bei den Alten, die Monate nach dem Monde, die Jahre nach der Sonne zu rechnen; die von den Gesetzen und den Orakeln gestellte Forderung, die Opfer in der Weise der Väter darzubringen, faßten die Griechen so auf, daß sie die Jahre in Übereinstimmung mit der Sonne, die Tage und die Monate in Überstimmung mit dem Monde erhielten. Die Jahre nach der Sonne rechnen heißt aber, den Göttern dieselben Opfer in denselben Jahreszeiten darbringen, das Frühlings­opfer soll immer im Frühling, das Sommeropfer immer im Sommer dargebracht werden, desgleichen sollen auch in die übrigen Jahres­zeiten dieselben Opfer fallen. Denn sie nahmen an, daß dies den Göttern angenehm und wohlgefällig sei.“

Der griechische Monat war also seit ältester Zeit der Mond­monat. Anfänglich wird man die Monate in derselben Weise ab­gemessen haben, wie die Juden, die Römer u. a., nämlich durch Be­obachtung der feinen Sichel nach Neumond. Diesen Monatsbeginn wird man aber allmählich verlassen haben und, wie ich im vorigen Kapitel bezüglich der Römer entwickelt habe, zu einer ungefähren Kenntnis der Länge des Mondjahres gelangt sein. Damit mußten die Monate eine feste Anzahl von Tagen erhalten, 29 und 30 Tage, da der Mittel­wert 29 12 Tage einem rohen Mondjahre von 12 Mondmonaten ent­spricht (s. I 63). Das Zeitalter, in welchem die Griechen zur Auf­stellung von abwechselnden, 29 resp. 30 Tage zählenden Monaten gelangt sind, läßt sich nicht mehr bestimmen. Bei den Athenern soll Solon, dem überhaupt zeitrechnerische Reformen zugeschrieben werden, die vollen (30tägigen) und hohlen (29tägigen) Monate eingeführt haben; er soll2 die Athener „die Tage nach dem Monde abmessen“ gelehrt haben. Es ist aber schwerlich ein Zweifel, daß vor Solon schon mit vollen und hohlen Monaten gerechnet wurde; seine Reformen beziehen sich vielmehr auf einige andere Punkte, auf die wir später eingehen müssen. Der Mondmonat in der zweifachen Form als solcher bestand schon lange vor ihm.

Während so die Unterscheidung von vollen (πλήρεις) und hohlen (ϰοῖλοι) Monaten ein kalendarisches Element wurde und blieb, schuf der Sprachgebrauch des Volks, welchem die stete Beobachtung zweier Arten von Monaten im gewöhnlichen Leben lästig fallen mußte, einen 30 tägigen Monat, mit dem sich bequem rechnen ließ. Dieser 30 tägige Monat wurde so populär, daß man ihn unbedenklich neben dem


1) Εἰσαγωγὴ εἰς τὰ φαινόμενα VIII 6 u. f.

2) Diogen. Laert. I 2, Solon § 59 [Cobet]: Ἠξίωσέ τε (ὁ Σόλον) Ἀϑηναίους τὰς ἡμέρας ϰατὰ σελήνην ἄγειν.

[§ 195. Der Monat; Zählung der Monatstage nach Dekaden. 317]

kalendarischen verwendete; neben μήν werden im gleichen Sinne τριάϰοντα ἡμέραι, gebraucht. So heißt es bei Homer, Od. X 14: „Ich blieb einen Monat sein Gast“; Kleisthenes ladet die Freier auf den 60. Tag nach Skyon (Herod. VI 126); „Dieser Eid soll jährlich er­neuert werden und zu dem Zwecke die Athener 30 Tage vor den olympischen Spielen sich zu Elis, Mantinea und Argos einfinden“ (Thukyd. V 47) usw. Der abgerundete 30tägige Monat erhielt aber noch dadurch eine erhöhte Bedeutung, daß man ihn bei den ver­schiedensten Gelegenheiten rechnerisch verwendete. So setzt Hippo­krates1 280 Tage = 9 Monate 10 Tage und2 270 Tage = 9 Monate; Aristoteles3 erzählt, daß die Hunde nach 72 Tagen = des Jahres werfen, die Hunde Lakoniens nach 60 Tagen oder des Jahres; das Rätsel des Kleobulos4 spricht von 12 Monaten zu je 30 Tagen ; die ursprüngliche Einteilung der Athener in 4 Stämme, 12 Phratrien und 360 Geschlechter erklärt Philochoros5 aus den Jahreszeiten, Monaten und Tagen des Jahres usf. Man rechnete aber auch beim Gericht den Monat zu 30 Tagen, hin und wieder wurden auch die Löhne und Taxen so berechnet, z.B. in einer Baurechnung6 heißt es: „Taglohn 2 Drachmen, macht für 13 Monate 780 Drachmen“ (2 × 30 × 13). Aus diesen Stellen und anderweitigen Beziehungen, in welche die Zahl 360 bisweilen bei den Autoren gebracht wird7, haben einige vermutet, daß die Griechen in einer gewissen Zeit ein 360tägiges Jahr resp. 390tägiges Schaltjahr gehabt hätten. Es ist aber kein Zweifel, daß alle diese Beispiele für nichts anderes zeugen, als für den Sprachgebrauch, welcher die runde Zahl von 30 Tagen als Monatsdauer annahm. Die 30tägigen Monate waren also ein populärer, die vollen und hohlen Monate ein kalendarischer Begriff.

Nachdem die Griechen sich von der alten Methode, den Monat


1) De carnibus p. 254.

2) De morbis vulgar. II p. 1031.

3) Hist. animal. VI 20.

4) Diogen. Laert. I 6 § 91 [Cobet]: Ein Vater (das Jahr) hat 12 Söhne (Monate) und von diesen jeder 30 Töchter (Tage) von zweifacher Gestalt, auf der einen Seite sind sie weiß (30 Lichttage), auf der andern schwarz (30 Nächte); ob­gleich unsterblich, schwinden sie doch alle dahin.

5) Bei Suidas s. v. γεννῆται: „Der Stämme machte man vier, nach dem Vorbild der Jahreszeiten; der Phratrien zwölf nach der Zahl der Monate, der Geschlechter in jeder Phratrie 30, nach der Tagsumme 360 des Jahres.“

6) Corp. Inscr. Att., II 2 no. 834c, Zeile 60 (p. 532).

7) Nach Plinius (Hist. nat. XXXIV 12) und Diogen. Laert. wurden dem Demetrios Phalereus 360 Statuen errichtet (nach Plinius für jeden Tag eine). Die Herde des Eumäos bestand aus 360 Tieren, täglich wurde von der Herde ge­liefert (Homer, Od. XIV 20; vgl. Aug. Mommsen, Chronol., S. 50 N. 1. 2. 3) usw.

[318 XI. Kapitel, Zeitrechnung der Griechen.]

vom Neulicht (der ersten Sichel) ab zu beginnen1 emanzipiert hatten und zyklische Vorausbestimmungen der Neumondseintritte versuchten, konnten sie dem Monatsanfange einen festen Platz geben. Man nannte den ersten Tag des Monats, weil er den neuen Mond ankündigte, νουμηνία. Die Numenia wurde also so verstanden, daß sie der Teiler war zwischen dem alten Monde und dem neuen oder daß in dem ersteren der alte Mond endigte und in dem andern der neue Mond anfing. Angeblich soll Solon die Bezeichnung νουμηνία eingeführt haben. Plutarch2 sagt hierüber: „Da Solon die Ungleichheit des Mondes bemerkte und sah, daß seine Bewegung weder mit der untergehenden noch mit der aufgehenden Sonne vollkommen übereinstimmt, sondern daß er oft an demselben Tage die Sonne erreicht und vor ihr vor­übergeht, so verordnete er, daß dieser Tag ἕνη ϰαὶ νέα [der letzte und neue, oder alte-neue] genannt werde, indem er meinte, der Teil des­selben vor der Konjunktion gehöre dem zu Ende gehenden Monate,


1) Für Athen findet Aug. Mommsen (Chronol., S.69—80) auf Grund von Beobachtungen von J. Schmidt die Zeit des Neulichtes im Mittel 41,4 Stunden nach der Konjunktion. Diese Beobachtungen, etwa 76, sind größtenteils zu Athen gemacht und reichen von Mitte 1859 bis Anfang 1880. In neuester Zeit hat J. K. Fotheringham versucht (On the smallest visible phase of the Moon. Month. Not. of Roy. Astr. Soc. LXX, 1910, p. 527) aus diesen Schmidtschen Beobachtungen eine rechnerische Regel abzuleiten. Er berechnet zu diesem Zwecke für die un­gefähre Zeit der 76 einzelnen Beobachtungen die Höhe des Mondes und die Differenz der Azimute von Sonne und Mond zur selben Zeit (Sonnenuntergang resp. Sonnenaufgang). Es ergibt sich als Resultat eine Tafel mit folgenden Durch­schnittswerten, in welcher A die jeweilige Differenz der Azimute (bei Sonnenauf- oder Untergang) und H das entsprechende Minimum der Mondhöhe zur selben Zeit bedeutet:

AH
12,0°
511,9
1011,4
1511,0
2010,0
237,7

Um für einen gegebenen Fall nachzuprüfen, ob die Neumondsichel an einem über­lieferten Datum mit freiem Auge gesehen werden konnte, wird man also mittels der astronomischen Tafeln (s. I 54) die Örter der Sonne und des Mondes für den Abend (oder Morgen) des Datums bestimmen und daraus für die geographische Breite des Beobachtungsortes die Differenz der Azimute von Sonne — Mond sowie die Mondhöhe berechnen. Die Sichel konnte sichtbar sein, wenn der Mond bei einer Azimutdifferenz A der Tafel die Minimalhöhe H erreicht hatte. Es muß aber daran erinnert werden, daß atmosphärische Bedingungen das rechnerische Ergebnis wesentlich beeinflussen können, sowie, daß unsere Mondtafeln für sehr zurückliegende Zeiten den Mondort nur sehr ungenau liefern.

2) Solon c. 25.

[§ 195. Der Monat; Zählung der Monatstage nach Dekaden. 319]

das übrige bereits dem beginnenden an .... Den darauf folgenden Tag nannte er Neumond.“ Die Numenia gehört also schon dem neuen Monat an und ist, da sie an der Spitze der vollen und hohlen Monate stehend, das Resultat einer zyklischen Verteilung darstellt, unabhängig von der Konjunktion wie vom Neulichte. Daß die Reform erst dem Solon zuzuschreiben ist, scheint wenig glaublich; dagegen sind die neueren Chronologen geneigt, von den obigen Worten Plutarchs so viel gelten zu lassen, daß Solon die Bezeichnung ἕνη ϰαὶ νέα für den letzten Tag des hohlen Monats, den man früher den τριαϰάς nannte, eingeführt hat. Die andere Hauptstelle des Mondes im Mondmonat, der Vollmond, hieß διχομηνία und mußte in dem bald 29- bald 30 tägigen Monat eine schwankende Stellung haben und auf den 14. oder 15. des Monats fallen. Die Dichomenie war ein bemerkenswerter Tag; nach Hesiod war er ein „vor allen heiliger“, zu Entschließungen und Tätig­keiten geeigneter Tag. Die Vollmondstage wurden zu Versammlungen, Verträgen, Gottesdiensten usw. benutzt. Die übrigen Lichtphasen des Mondes, die wir z. B. von Geminos (c. IX περὶ σελήνης φωτισμῶν aus­führlich beschrieben finden, wurden folgenderweise benannt: μηνοειδὴς (die erste und letzte Mondsichel), διχότομος (die zweite und sechste Phase des halbvollen Mondes), ἀμφίϰυρτος (die dritte und fünfte des nach beiden Seiten gekrümmten Mondes) und πανσέληνος (der volle Mond).

Die Tage des Monats wurden nicht, wie z. B. bei den Persern mit Namen benannt, sondern gezählt. Aus dem Kalendergedichte des Hesiod ersehen wir die Art der Zählung, die von hohem Alter sein mag. Hesiod kennt schon die Teilung des Monats in drei De­kaden, und die Ausdrucksweise mit denselben ist ihm ganz geläufig. Es kommen bei ihm folgende Benennungen der Tage vor:

Der4.Tag: τετράς (v. 770), ἐν τετάρτῃ μηνός (v. 800), τετράδι (v. 809. 819).
5. πέμπτας (v. 802).
6. ἡ πρώτη ἕϰτη (v. 785).
7. ἑβδόμη (v. 770).
8. ὀγδοάτη (v. 772), μηνὸς ὀγδοάτη (v. 790).
9. ἐνάτη (v. 772), πρωτίστη εἰνάς (v. 811).
10. δεϰάτη (v. 794).
11. ἑνδεϰάτη (v. 774), τῆς ἑνδεϰάτης (v. 776).
12. δυωδεϰάτη (v. 744), ἡ — δυωδεϰάτη (v. 776), δυωδεϰάτῃ (v. 791).
13. μηνὸς — ἱσταμένου τρεισϰαιδεϰάτην (v. 780).
14. τετράς μέσση (v. 794).
16. ἕϰτη — ἡ μέσση (v. 782).
[320 XI. Kapitel. Zeitrechnung der Griechen.]
Der17.Tag: μέσσῃ — ἑβδομάτῃ (v. 805).
19. εἰνὰς — ἡ μέσση (v. 810).
20. εἰϰάδι (v. 792).
24. (τετράδα) μετ᾽ εἰϰάδα (v. 810),
29. τρισεινάδα (μηνός) (v. 814).
30. τριηϰάδα μηνός (v. 766).

Die Dekadenteilung tritt hier deutlich auf, indem die Tage der ersten Dekade durch den Zusatz πρώτη von den Tagen der zweiten Dekade mit dem Beisatz μέσσῃ unterschieden werden. Für den 15. und 25. Tag gilt der Plural πέμπτας. Aus der Art, wie bei Hesiod die Tage zusammengestellt werden, geht hervor, daß der 4., 14. und 24. Tag und ähnlich der 9., 19. und 29. Tag nach den Grund­benennungen aus der ersten Dekade bezeichnet sind. Es herrscht also im ganzen und, was gleich besonders hervorzuheben ist, auch in der dritten Dekade das Prinzip, nach vorwärts zu zählen. Der 30. Tag, die τριηϰάς, ist merkwürdigerweise von Hesiod zuerst auf­gezählt (v. 766). Der Grund davon liegt wahrscheinlich in dem Um­stände, daß zu des Dichters Zeiten noch mancherlei Unsicherheit in der Zeitrechnung war und man oft dem letzten Tage eines 29 tägigen sowie eines 30 tägigen Monats ohne Unterschied jene Bezeichnung zu­teilte, der Dichter also die Definition τριαϰάς nur den vollen 30 tägigen Monaten zukommen lassen will. Auf diese Forderung, daß man die hohlen und vollen Monate richtig im Mondjahre verteilen müsse und nur dem letzten Tage eines vollen Monats die Bezeichnung „der dreißigste“ geben dürfe, bezieht sich v. 766, wo gesagt wird: „Um die Feldarbeiten nachzusehen und (dem Gesinde) aus den Vorräten zuzuteilen, ist am besten der 30. des Monats, vorausgesetzt, daß man den richtig bestimmten Dreißigsten im Kalender hat.“ Abgesehen von den aus Zahlwörtern gebildeten Tagesbenennungen kommt bei Hesiod noch der Tag ἔνη vor (v. 770). Diesen Tag betrachten einige als den ersten des Hesiodschen Monats, andere identifizieren ihn mit dem dreißigsten, setzen also ἔνη = τριηϰάς. Die erstere Meinung ist wahrscheinlich die richtige, da, wenn ἔνη = τριηϰάς wäre, der Erste in Hesiods Monat fehlen würde. Der Erste gilt zudem bei Hesiod als ein glücklicher Tag und wird zu den „Tagen des Zeus“ gerechnet: „Der Erste, der Vierte und der durch Apollons Geburt geheiligte Siebente.“ Daß der Erste des Monats mit ἔνη bezeichnet wird, hängt mit dem Monde zusammen; bei der Erneuerung des Monats mußte der alte Mond zu Ende sein und der neue sollte erwartet werdend


1) Möglich, daß alle mondlos verlaufenden Tagnächte eines langen ..... Inter­luniums vor alters ἔναι, Tage des alten Mondes, genannt wurden. Aber sobald als ἔνη einen bestimmten und zwar den 1. Monatstag zu bedeuten anfing, mußte der [Fortsetzung der Fußnote]

[§ 195. Der Monat; Zählung der Monatstage nach Dekaden. 321]

(s. oben S. 318 über die Numenia). — Da aus den oben angeführten Tagesbenennungen bei Hesiod keine direkte Beziehung auf den Mondmonat ersichtlich ist, so haben manche1 gemeint, der Monat Hesiods sei überhaupt nur 30tägig und auf ein Sonnenjahr zu deuten, welches die Griechen von den Ägyptern kennen gelernt hätten. Allein von dem wichtigsten Teile des ägyptischen Sonnenjahrs, den fünf Epagomenen, findet sich bei Hesiod keine Spur, und ein halbwegs auf die Rückkehr der Jahreszeiten passendes Jahr hätte doch mindestens 365 Tage haben müssen. Ferner sind in Hesiods Dichtung selbst mehrere Andeutungen darüber enthalten, daß er von Mondmonaten spricht; so ist ihm z. B. der Tag der Dichomenie, der von den späteren Griechen auf den 14. oder 15. gesetzt wird, ein besonders ausgezeichneter Tag (s. oben S. 319), was nur auf Mondmonate paßt, da nur in solchen der Vollmondstag nahe der Monatsmitte gelegen sein konnte. Überdies widerspricht die Voraus­setzung eines ehemaligen Sonnenjahrs dem ganzen späteren Entwicklungsgange der Zeitrechnung bei den Griechen. Der letztere läuft auf die fortwährende Vervoll­kommnung eines Lunisolarjahrs und auf die schließliche Ablösung desselben vom Mondjahr hinaus. Der geistige Fortschritt der Völker erfolgt stetig und weist, wenigstens in der Ausbildung der Zeitrech­nung, keine Sprünge auf, sondern knüpft sich an das alte erworbene Wissen. Die Mondzeitrechnung der Griechen muß daher sehr alt sein und weit vor Hesiod zurückreichen, und ihre seitherige Ent­wicklung schließt den Rücksprung zu einem (notwendigerweise sehr unvollkommenen) Sonnenjahr von selbst aus. Man hat eben das Naturjahr, von welchem Hesiod spricht und das bei den Acker­bauern überall als erste, rohe Richtschnur für ihre Arbeiten angenommen ist, mit einem kalendarischen Sonnenjahr verwechselt.

Obwohl die oben nach Hesiod übliche Zählung der Monatstage wahrscheinlich für den böotischen Kalender gilt, also nicht allgemein griechisch ist, so muß dieselbe (mit Varianten) auch in Athen ge­braucht worden sein. Etwa vom 6. Jahrh. v. Chr. aufwärts erfährt aber das in dieser Art Tagesbenennung ausgedrückte Prinzip der Vorwärtszählung eine Reform, indem von da ab die attische Zeit­rechnung die Tage der dritten Dekade nach rückwärts zählt, nämlich statt des 29. den Zweiten vom Ende, statt des 28. den Dritten vom Ende usf. Der Urheber dieser Zählung ist angeblich Solon. In der oben (S. 318 f.) angeführten Stelle bei Plutarch über die Reform-


[Anfang der Fußnote] Ausdruck beschränkt werden auf die Tagnacht, welche abends die junge Mond­sichel brachte oder, der Erwartung nach, bringen mußte (Aug. Mommsen Chronol., S. 3 A. 3).

1) Selbst Ideler (Hdb. I 258. 261) ist dieser Meinung.

Ginzel, Chronologie II. 21

[322 XI. Kapitel. Zeitrechnung der Griechen.]

tätigkeit Solons in Athen sind noch die Worte hinzugesetzt: „Die Tage nach dem Zwanzigsten aber zählte er nicht in ihrer Ordnung durch Hinzusetzen fort, sondern rückwärts und abnehmend, so wie er den Mond abnehmen sah, bis zum Dreißigsten.“ Dasselbe bestätigt der Scholiast des Aristophanes (ad nubes 1129). Danach zerfiel also der Monat wie früher in drei Dekaden: die des anfangenden Mondes = μηνὸς ἱσταμένου, die des mittleren Mondes = μηνὸς μεσοῦντος und die des hinschwindenden Mondes = μηνὸς φϑίνοντος, Ausdrücke, die schon bei Homer1 und Hesiod2 vorkommen. Daß der erste Monatstag von Solon νουμηνία genannt wurde und der letzte ἕνη ϰαὶ νέα ist schon oben (S. 318) erwähnt worden. Der zweite Tag hieß, dem früher Gesagten gemäß, δευτέρα ἱσταμένου, der dritte τρίτη ἱσταμένου usw. bis δεϰάτη ἱσταμένου; die zweite Dekade ging von πρώτη ἐπὶ δέϰα (oder ἑνδεϰάτη), δευτέρα ἐπὶ δέϰα (oder δωδεϰάτη) bis εἰϰάς (20.) oder εἰϰάδες. In der 3. Dekade ist der 21. Tag der „Zehntletzte“, δεϰάτη φϑίνοντος, der 22, der „Neuntletzte“ ἐνάτη φϑίνοντος, bis zum 29., dem „Zweit­letzten oder Zweiten vom Ende“ δευτέρα φϑίνοντος. Der letzte Tag hatte die besondere, von der numerierenden Zählung unabhängige Bezeichnung ἕνη ϰαὶ νέα oder ἕνη. Der 21. Tag wurde auch δεϰάτη ὑστέρα (der hintere Zehnte), der 10. Tag auch δεϰάτη προτέρα (der vordere Zehnte) genannt3. Die Tagesbezeichnungen der Solonschen Zeit sind somit folgende:

1.Tag νουμηνία
16.Tag ἕϰτη ἐπὶ δέϰα
2. δευτέρα ἱσταμένου 17. ἑβδόμη  „  „
3. τρίτη  „ 18. ὀγδόη  „  „
4. τετάρτη (τετρὰς) ἱσταμένου 19. ἐνάτη  „  „
5. πέμπτη ἱσταμένου 20. εἰϰάδες (εἰϰάς)
6. ἕϰτη  „ 21. δεϰάτη φϑίνοντος
7. ἑβδόμη  „ 22. ἐνάτη  „
8. ὀγδόη  „ 23. ὀγδόη  „
9. ἐνάτη  „ 24. ἑβδόμη  „
10. δεϰάτη  „ 25. ἕϰτη  „
11. ἑνδεϰάτη (πρώτη ἐπὶ δέϰα) 26. πέμπτη  „
12. δωδεϰάτη (δευτέρα ἐπὶ δέϰα) 27. τετράς  „
13. τρίτη ἐπὶ δέϰα 28. τρίτη  „
14. τετάρτη (τετράς) ἐπὶ δέϰα 29. δευτέρα  „
15. πέμπτη ἐπὶ δέϰα 30. ἔνη ϰαὶ νέα (ἔνη)

1) Od. XIV 162.

2) v. 798 u. a.

3) Vgl. A. Schmidt, Handb. d. gr. Chronol., S. 150; s. jedoch Aug. Mommsen. Chronol., S. 93, Anm. 2.

[§ 195. Der Monat; Zählung der Monatstage nach Dekaden. 323]

Der Gebrauch dieser Zählung ist im 5. und Anfang des 4. Jahrh. v. Chr. aus zahlreichen Inschriften nachweisbar. So zählt eine Inschrift, die etwa dem Jahre 409 angehört (Corp. Inscr. Attic. I, no. 189 a, p. 88 f.) neben den Prytanientagen: δεϰάτη φϑίνοντος Μεταγειτνιῶνος ..... ἕϰτη ..... πέμπτη φϑίνοντος ..... ἔνῃ ϰαὶ [ν]έᾳ Μεταγειτνιῶνος. Desgleichen findet sich die Datierungsweise bei den Schriftstellern der älteren Zeit1.

Dagegen tritt betreffs der dritten Dekade (etwa im ersten Viertel des 4. Jahrh. v. Chr.) eine andere Zählweise der Tage auf, indem dieselben nach vorwärts gezählt werden mit der Formel μετ᾽ εἰϰάδας, und zwar wie folgt:

21.Tag δεϰάτη ὑστέρα
22. δευτέρα μετ᾽εἰϰάδας
23. τρίτη
24. τετράς
25. πέμπτη
26. ἕϰτη
27. ἑβδόμη
28. ὀγδόη
29. ἐνάτη
30. ἔνη ϰαὶ νέα.

Die Zeitgrenze, wann die Tagzählung nach rückwärts aufhörte und durch eine neue nach vorwärts ersetzt wurde, läßt sich nicht genau feststellen. In einem Dekret der (attischen) Kleruchen auf Samos2 wird Ol. 108, 3 (346 v. Chr.) noch mit φϑίνοντος datiert; als späteste Urkunde, in welcher φϑίνοντος vorkommt, nennt Aug. Mommsen3 ein Gesetz, das Lykurg, Lykophrons Sohn, beantragt hat (noch vor Ol. 114). Die Vorwärtszählung mit μετ᾽ εἰϰάδας kommt zuerst (nach Aug. Mommsen) Corp. Inscr. Att. II, no. 169, p. 78 vor (die Er­gänzung [Μεταγειτνιῶ]νος ἕϰτ[ῃ μετ᾽ εἰϰάδας als richtig vorausgesetzt), um Ol. 111, 4 = 333 v. Chr. Ad. Schmidt setzt die Übergangszeit von der Rückwärtszählung auf die Vorwärtszählung in die Jahre 330—325 v. Chr. Die vorstehenden Bemerkungen betreffen den Amtsstil, die Urkunden usw. Bei den Schriftstellern, in der Literatur,


1) z. B. Aristophanes, Nubes v. 1131: πέμπτη, τετράς, τρίτη ..... ἔνη ϰαὶ νέα; Thukydides IV 118: Der Waffenstillstand ..... von dem Tage der Unterschrift an zu rechnen, welcher der 14. des Monats Elaphebolion war (τετράδα ἐπὶ δέϰα τοῦ  Ἐλαφηβολιῶνος μηνός); V 19: Alkaios Archon im Monat Elaphebolion am 6. Tage der letzten Dekade ( Ἐλαφηβολιῶνος ἕϰτῃ φϑίνοντος).

2) C. Curtius, Inschr. von Samos (Progr. Lübeck 1877), p. 10.

3) Chronol., S. 118.

21*

[324 XI. Kapitel. Zeitrechnung der Griechen.]

im gewöhnlichen Leben werden beide Zählungsarten auch in den späteren Jahrhun­derten gebraucht, besonders bei den Schriftstellern findet man noch lange die Zählung mit φϑίνοντος.

Ich stelle hier noch die wichtigsten Varianten der Tages­bezeichnungen zusammen, welche sich in den Urkunden und Inschriften und bei den Schriftstellern vorfinden1:

11.Tag πρώτη ἐπὶ δέϰα, μία ἐπὶ δέϰα, πρώτη ἐπὶ εἰϰάδα2
12. δευτέρα ἐπὶ δέϰα 
13. τρισϰαιδεϰάτη 
15. πεντεϰαιδεϰάτη 
16. ἕϰτη ἐπὶ δεϰάτῃ, ἕϰτη μεσοῦντος
18. ὀϰτωϰαιδεϰάτη 
19. ἐννεϰαιδεϰάτη 
20. εἰϰοστή 
21. ὑστέρα δεϰάτη, δεϰάτη ὑστέρα,
εἰϰὰς πρώτη, εἰϰὰς ϰαὶ μία, πρώτη ἐπὶ εἰϰάδι
23. τρίτη εἰϰὰς, ἡ τρίτη εἰϰάς
24. ἡ τετάρτη εἰϰάς 
25. ἕϰτη ἀπιόντος, ἡ πέμπτη εἰϰάς
26. ἕϰτη ϰαὶ εἰϰοστή, ἡ ἕϰτη εἰϰάς
27. τετάρτη φϑίνοντος, ἡ ἑβδόμη εἰϰάς
28. τρίτη ἀπιόντος, ὀγδόη μετ᾽ εἰϰάδα, ἡ ὀγδόη εἰϰάς
29. ἡ ἐνάτη εἰϰάς
30. ἔνη ϰ. ν., ἔνη ϰαὶ νεία, ἔνη τε ϰαὶ νέα,
τριαϰάς, τριαϰοστή; Δημητριάς [Plutarch, Demetr. 12]

In dem nichtattischen Kalenderwesen kommen ungefähr die­selben Tagesbezeich­nungen vor, und die Dekadenteilung der Monate scheint in ganz Griechenland und den Kolonien verbreitet gewesen zu sein. Von den Tagesbezeichnungen dieser Kalender (von welchen einige schon unter den obigen Varianten stehen) hebe ich hervor: den Zusatz (μενὸς) ἀπιόντος oder φϑίνοντος oder ἐξιόντος bei den Tagen der 3. Dekade; die Vorwärtszählung mit μετ᾽ εἰϰάδος oder ἐξ εἰϰάδος; bei denen der 2. Dekade den Zusatz im ἐπὶ δέϰα oder (μενὸς) ὁλοϰυϰλίου, die Bezeichnung ὑστερομειννία für den 21. Tag usw.3. Ein wesentlicher Unterschied in der Tages­bezeichnung zwischen dem attischen und den andern griechischen Kalendern hat also nicht bestanden.


1) Ausführliche Belege bei A. Mommsen, Chronol., S. 80—116.

2) Der Zusatz ἱσταμένου bei den ersten 10 Tagen wird vielfach weggelassen.

3) Vgl. E. Bischoff, welcher (Leipzig. Studien z. Klass. Philol., X. Bd. 1887, S. 299—308) eine Sammlung von Tagnamen aus 77 griechischen Kalendern gibt.

[§ 196. Die Zählung der Tage in der dritten Dekade der hohlen Monate. 325]

Von etwaigen anderen Teilungen des Monats als den dekadischen sind im griechischen Zeitrechnungswesen nur geringe Spuren vor­handen. Es kommen zwar bei den Schrift­stellern 9tägige und 7tägige Fristen, 7jährige u. dgl. vor. So wird der sechste und siebente Tag einigemale von Homer1 besonders hervorgehoben; der 7. Tag war in Athen ein geheiligter, dem Apollon geweiht (Hesiod v. 770); bei den griechischen Ärzten galt jeder siebente Tag als ein kritischer in den Krankheiten; auch die Sage über die sich nicht mehrende und nicht mindernde Zahl der Rinder und Schafe des Helios auf der Insel Thrinakia (Homer, Od. XII 129), welche aus 50 mal 7 bestand, ferner einige angeblich 7tägige Feste und verschiedenes andere ist zum Nachweise 7tägiger Intervalle heran­gezogen worden. Manche haben zuviel daraus gemacht. So hat Bérard in diesen Belegen die Spuren von 7tägigen Wochen gesehen und für Nachwirkungen des griechisch-phönizischen Handelsverkehrs der alten Zeit erklärt; andere glauben, daß die 7tägige Woche in Griechenland die frühere war und durch die Dekadenzählung verdrängt worden ist. In allen diesen Beweisen liegt aber kaum mehr Grund, als daß es sich nur um Intervallbildungen durch den Sprachgebrauch und um Volksgewohn­heiten handelt, wie solche auch bei andern Völkern vorkommen. Bei den Schriftstellern und Ärzten mag auch die vom Orient übernommene Heiligkeit der Siebenzahl mitgespielt haben. Zu einem kalendarischen Begriff, d. h. zu einer 7tägigen Woche, haben sich jene Frist­bestimmungen nicht entwickelt. Erst in sehr später Zeit fanden mit dem julianischen Jahre auch die 7 Wochentage, besonders benannt, ihren Eingang. In den Papyri der alexandrinischen Zeit treten all­mählich besondere Namen für die Wochentage auf; nicht wenig trug zum Eindringen der 7 tägigen Woche der Gebrauch dieser Woche bei den griechisch redenden Juden bei, welche von ihrem Vaterlande aus die Woche in den Okzident übertrugen (s. S. 10).


1) Od. X80, XII 397, XIV 249, XV 476.

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