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[§ 196. Die Zählung der Tage in der dritten Dekade der hohlen Monate. 325]

§ 196. Die Zählung der Tage in der dritten Dekade der hohlen Monate; die Streitfrage.

Die im vorigen Paragraph behandelte Benennung der Monatstage gilt für die vollen (πλήρεις) Monate, d. h. für die 30 tägigen. Wenn man nun aber einen 29 tägigen hohlen (ϰοῖλος) Monat hatte, in welchem die dritte Dekade um einen Tag kürzer, also nur 9tägig war, so entsteht die Frage, wie die attische Zeitrechnung, (von den

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ausfallenden Tagen der andern griechischen Kalender ist zu wenig bekannt) die Tagesbenennung handhabte.

Betrachten wir die durch ein Zeitintervall von mehreren Jahr­hunderten voneinander getrennten Zählweisen der Rückwärtszählung mit φϑίνοντος und die der Vorwärts­zählung nach μετ᾽ εἰϰάδος, so ist bei der ersteren logischerweise vorauszusetzen, daß man bei der Rück­wärtszählung, vom letzten Tage (29.), der δευτέρα φϑίνοντος, ausgehend, den 9. Tag der Dekade, d. i. die δεϰάτη φϑίνοντος wegließ. Dann schloß der 29tägige Monat mit dem 29. Tage = ἔνη ϰαὶ νέα. Bei der späteren Zählweise, nämlich der Vorwärtszählung, scheint die Annahme naheliegend, daß man erst am Schlüsse der Monatstage die Korrektur vornahm, d. h. vor dem letzten Tage einen Tag ausstieß (ἐξαιρέσιμος ἡμέρα), um den Monat 29tägig zu machen; es wäre also der Tag ἐνάτη μετ᾽ εἰϰάδας ausgelassen worden, so daß auf die ὀγδόη μετ᾽εἰϰάδας gleich die ἔνη ϰαὶ νέα folgte. Während bei der alten Zählweise die Änderung der Zählung im Innern des Monats, beim Anfange der letzten Dekade vorgenommen worden wäre, hätte man die Korrektur im Zeitalter der jüngeren Zählweise erst am Ende der Dekade ausgeführt. Theoretisch wäre danach für hohle Monate die Zählung



der älteren Periode der jüngeren Periode
21.Tag ἐνάτη φϑίνοντος δεϰάτη ὑστέρα
22. ὀγδόη δευτέρα μετ᾽ εἰϰάδας
23. ἑβδόμη τρίτη
24. ἕϰτη τετράς
25. πέμπτη πέμπτη
26. τετράς ἕϰτη
27. τρίτη ἑβδόμη
28. δευτέρα ὀγδόη
29. ἔνη ϰαὶ νέα (ἔνη) ἔνη ϰαὶ νέα (ἔνη)

Obwohl für die alte Zeit, für die Periode der Rückwärtszählung, die Annahme sehr natürlich ist, daß man in der 3. Dekade in hohlen Monaten den 10. Tag, d. i. die δεϰάτη φϑίνοντος unterdrückte, weil diese Dekade nur 9 Tage hatte, so haben sich doch auch Vertreter für die Ansicht gefunden, daß nicht am Anfange der letzten Dekade ein Tag ausgelassen worden sei, sondern am Ende, nämlich die δευτέρα φϑίνοντος. Die Autoritäten für die erste Ansicht sind Petavius, Ideler, Böckh, Aug. Mommsen, A. Schmidt, für die zweite Dodwell, K. F. Hermann und Unger. Als Stützpunkte für die Hypothese, daß die δεϰάτη φϑίνοντος der Ausfallstag (ἐξαιρέσιμος ἡμέρα) gewesen ist, gelten vornehmlich folgende: 1) Pollux

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sagt1, daß die Richter des Areopags ihr Amt in jedem Monat an 3 Tagen: τετάρτῃ, τρίτῃ und δευτέρᾳ φϑίνοντος hintereinander ver­waltet haben. Aus dieser Äußerung würde hervorgehen, daß es in jedem Monat, sowohl den vollen wie den hohlen, eine δευτέρα φϑίνοντος gegeben hat. Diese Beweisstelle ist indessen nicht ausgiebig genug, da leicht möglich ist, daß Pollux hier nur dem populären Sprachgebrauche folgt, welcher jeden Monat zu 30 Tagen rechnet. Dieser Einwand wird denn auch von den Gegnern gemacht. 2) Kräfti­geren Beweis liefert eine Stelle aus Aischines (Reden geg. Ktesiph. § 27), wo es heißt, unter dem Archon Chairondas (Ol. 110, 3 = 338 v. Chr.) sei ein Beschluß Θαργηλιῶνος μενὸς δευτέρᾳ φϑίνοντος ge­faßt worden. Diese Datierung gehört sicher noch in die Zeit (s. oben S. 323), wo noch die alte Rückwärts­zählung amtlich gehandhabt wurde. Der Monat Thargelion des Jahres 338 v. Chr. war ein hohler Monat, und zwar sowohl für den Fall, daß damals schon der Metonsche Zyklus eingeführt war, als auch für den Fall, daß noch die Solonsche Okta­eteris galt. Wenn es sich aber um einen hohlen, d. h. 29tägigen Monat handelt und dieser die Datierung δευτέρα φϑίνοντος enthielt, so konnte nicht diese, sondern nur die δεϰάτη φϑίνοντος ausgefallen sein. Unger wendet dagegen ein, daß im oktaëterischen Kalender der Thargelion hätte 30tägig sein können und daß möglicherweise bei Aischines der Zusatz ἐμβολίμῳ fehle, außerdem auch die Schalttage nicht gleich­mäßig behandelt worden seien. 3) Die Römer zählten die Tage rück­wärts wie die Griechen (s. § 170); die Bezeichnung der Tage nach den Iden „a. d. XIV (oder XVII, XVIII, XIX) Kal.“ richtet sich bei ihnen ganz nach der Länge des Monats. Da diese Zählung sehr alt und nach Angabe des Macrobius von den Griechen entlehnt worden ist (s.  S. 174), so kann man voraussetzen, daß sie auch bei den Griechen in Gebrauch war. Wie die letzteren ließen die Römer, die von den Griechen (nach Hartmann u. a.) mehrere zeitrechnerische Elemente übernommen haben sollen, am Anfange der rücklaufenden Zählung einen oder mehrere Tage fort. Auch das Zeitalter dieser Übernahme würde hinreichend stimmen, da die Römer ihre Zeitrechnung noch unter den Königen (Numa?) verbesserten und die Griechen die rücklaufende Zählweise der 3. Dekade angeblich zu Solons Zeit (wahrscheinlich aber schon früher) einführten. — Einige andere Gründe2 sind weniger beweisend für die δεϰάτη φϑίνοντος als Ausfallstag.


1) Onom. VIII 117: Καϑ᾽ ἕϰαστον δὲ μῆνα τριῶν ἡμερῶν ἐδίϰαζον (οἱ Ἁρεοπαγῖται) ἐφεξῆς, τετάρτῃ φϑίνοντος, τρίτῃ, δευτέρᾳ.

2) Zu diesen gehört die Datierung ἐπὶ Πεισίλεω ἄρχοντος ἐν Σάμῳ, Ἀϑίνησι δὲ ἐπὶ Ἀρχίου ἄρχοντοςμηνὸς Ποσειδεῶνος τετράδι φδίνοντος ἐπὶ τῆς Πανδιονίδος πέμπτης πρυτανείας μιᾶὶ τριαϰοστεῖ einer Inschrift von Samos, Ol. 108, 3 = 346 v. Chr. [Fortsetzung der Fußnote]

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Die Argumente, welche für die zweite Hypothese, nach der am Ende der 3. Dekade die δευτέρα φϑίνοντος ausgelassen worden sei, bei­gebracht werden, kann man nicht gerade für sehr starke halten. Den Beweis, auf welchen Dodwell, der Begründer jener Ansicht, sich stützte, hat schon Ideler1 als unzureichend erklärt. Ulpian macht zu einer Stelle in der Rede de falsa legatione (Orat. Graeci I, p. 359) des Demosthenes die Bemerkung: „Die Athener zählen die Tage nach dem 20. in umgekehrter Ordnung, indem sie den 21. den 10. φϑίνοντος; den 22. den 9. und so bis zur τριαϰάς hin nennen.“ Dodwell versteht diese Erklärung so, daß die Athener in den hohlen Monaten die δευτέρα φϑίνοντος ausgelassen hätten. Allein abgesehen davon, daß diese Erklärung des Scholiasten Ulpian nur auf die Tages­zählung der Athener im allgemeinen, ohne Unterscheidung von vollen oder hohlen Monaten sich bezieht, wird an der genannten Stelle (ad 359, 29) nachher bei der Zählung vom letzten Monatstage an auch die δευτέρα φϑίνοντος angeführt. Zur Unterstützung wird von Dodwell eine Bemerkung des Proklos zu Hesiod herangezogen2: „Hesiod fängt mit der τριαϰάς an, dem Tage der wahren Konjunktion, welcher der wirkliche dreißigste oder aber der neunundzwanzigste Tag ist, wenn auch von den Athenern der Tag vor dem dreißigsten weggelassen wird.“ Proklos vergleicht hier nur die alte Hesiodsche Tageszählung (nach vorwärts auch in der 3. Dekade) mit der späteren zu seiner Zeit noch üblichen μετ᾽ εἰϰάδας. In der späteren Periode, jener der Vorwärtszählung (vom 4. Jahrh. ab, s. o. S. 323) ließ man allerdings den vorletzten Tag, die ἐνάτη μετ᾽ εἰϰάδας, d. i. die alte δευτέρα φϑίνοντος aus, aber mit der Tageszählung in der Solonschen Zeit, um die es sich handelt, hat das Scholion des Proklos nichts zu tun3. Eine Inschrift (vermutlich von 324 v. Chr., Corp. Inscr. Att. II no. 834 c, Zeile 77), welche des weiteren als Beweis für das Ausfallen der δευτέρα φϑίνοντος angeführt wird, ist (nach Schmidt, a. a. O. 159) der Lesung und Interpretation nach zweifelhaft. Einige


[Anfang der Fußnote] (A. Schmidt, Hdb. d. gr. Chronol., S. 160). Unger wendet ein, daß die vier ersten Prytanien je 36 Tage gehabt haben können. Dann würde die τετράς φϑίν. nicht der 26., sondern der 27. Tag sein. — Die Stelle des Schol. Aristoph., Nubes 1131, p. 126, daß die Athener „je nachdem der Monat war“ (hohl oder voll) von der δεϰάτη oder der ἐνάτη φϑίν. zurückgezählt haben, nehmen Ideler und Aug. Mommsen für nicht besonders beweisend, da neben dem 10. und 9. Tage auch noch die ἐνδεϰάτη und die ὀγδόη φϑίν. als Anfänge, von Rückwärtszählungen genannt werden, wodurch die Interpretation der Stelle zweifelhaft wird.

1) Hdb. d. Chr., I 284.

2) Opp. v. 766: Ἄρχεται Ἡσίοδος ἐϰ τῆς τριαϰάδος, ϰαϑ᾽ ἣν ἡ ἀληϑής ἐστι σύνοδος, ὁτὲ μὲν οὖσαν τριαϰάδα ἄνευ ἐξαιρέσεως, ὁτὲ δὲ ϰϑ´, ὅτε ϰαὶ ὑπεξαιρεῖται ἡ πρὸ αὐτῆς ὑπὸ Ἀϑηναίων.

3) S. a. Aug. Mommsen, Chronol., S. 122 u. 123 A. 1.

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von Unger angegebene Beweise passen nicht auf die alte Zeit und auf den attischen Kalender. Der eine Beweis, das Todesdatum Alexanders d. Gr. (323 v. Chr.), ist dem makedonischen Kalender (Plutarch, Alex. 75. 76) entnommen; der andere Beweis, die rhodische Inschrift1, nach welcher in den hohlen Monaten auf ΔΚ (= τετράς φϑίνοντος) und ΓΚ (= τρίτη φϑίνοντος) gleich ΤΡ (= τριαϰάς) folgt, also ΠΤΡ (= προτριαϰάς) übersprungen ist, gehört dem rhodischen Kalender und der Zeit der flavischen Kaiser (1. Jahrh. n. Chr.) an.

Die jüngere Zeitrechnungsperiode zählte (etwa von 330 v. Chr. an, s. oben) die Tage der dritten Dekade nach vorwärts und ließ in den hohlen Monaten den vorletzten Tag, die ἐνάτη μετ᾽ εἰϰάδας, aus (s. oben S. 326). Als Beweis für die ἐνάτη, als Ausfallstag wird ge­wöhnlich das vorhin angeführte Scholion zu Hesiod v. 766 zitiert, nach welchem in neunundzwanzigtägigen Monaten „von den Athenern der Tag vor der τριαϰάς weggelassen wird“. Da mit letzterem Satze nur die spätere Zählweise der Tage, die Vorwärtszählung gemeint sein kann und die τριαϰάς auf dieser beruht, so muß der vorletzte Tag, die ἐνάτη μετ᾽ εἰϰάδας, ausgelassen worden sein. In Inschriften, z. B. Corp. Inscr. Att. II 1 no. 270 aus Ol. 119, 3 = 302 v. Chr., welches Jahr einen hohlen Skirophorion hat, erscheint in diesem Monat der 21. Tag = δεϰάτη ὑστέρα, also der 28. Tag = ὀγδόη und der darauf folgende ἔνη ϰαὶ νέα, somit fällt die ἐνάτη aus.

Die Frage, welche Zählung man einhielt, wenn in einem hohlen Monat noch ein Schalttag eingelegt werden mußte, wenn also der Monat dreißigtägig wurde, versucht Schmidt zu beantworten. In diesem Falle habe man, da dann die dritte Dekade tatsächlich 10 Tage enthielt, in der älteren Periode, jener der Rückwärtszählung, die δεϰάτη φϑίνοντος beibehalten, nach dem drittletzten Tage, d. i. der τρίτη φϑίνοντος, aber noch zwei Tage, eine ἔνη ϰαὶ νέα προτέρα und eine ἔνη ϰαὶ νέα ἐμβόλιμος δευτέρα, folgen lassen. Die δευτέρα φϑίνοντος (28.) fiel also aus und wurde durch zwei Tage ersetzt. In der späteren, vorwärtszählenden Zeit, in der man in hohlen Monaten die ἐνάτη μετ᾽ εἰϰάδας ausfallen ließ (s. oben), wäre dagegen beim Schaltmonat der hinzukommende Tag einfach durch Einfügung einer ἔνη ϰαὶ νέα προτέρα an Stelle der ἐνάτη ersetzt worden. Als Beweis für die erstere An­sicht zieht Schmidt die von Demosthenes, De falsa legat § 57 f., p. 359 f. aufgezählten Ereignisse (im Monat Skirophorion 347 v. Chr.) heran. Die andere Ansicht wird mit Rücksicht auf Inschriften (Corp. Inscr. Att. II 1, no. 260, 262, 263, 264) aus der Zeit des Archon Leostratos (303 v. Chr.) begründet.


1) C. T. Newton, The collection of Ancient greek inscriptions in the British Museum, Part II, 1883, No. 344, p. 116.

[330 XI. Kapitel. Zeitrechnung der Griechen.]

Im Gegensatze zu den bisher aufgeführten Hypothesen steht die Meinung von Usener, daß der Ausfallstag in den hohlen Monaten die ἐνάτη φϑίνοντος gewesen sei. Diese Hypothese ist die schwächste, schon deshalb, weil sie zwischen der alten und der späteren Zeit keinen Unterschied macht. Bei Schmidt1 findet der Leser die Argu­mente dieser Ansicht und die gegen sie sprechenden Gründe zusammen­gestellt. Der Vorwurf, daß Material, welches der Jüngeren Zeit oder fremden, nichtgriechischen Kalendern angehört, als Beweis für die Tageszählung der alten Periode gebraucht wird, trifft auch Unger. Aug. Mommsen und Schmidt haben gezeigt, daß die spätere, meto­nische Zählweise von der alten Solonischen unterschieden werden muß.

Überblickt man die Beweise im ganzen, die für die Lösung der Streitfrage beigebracht worden sind, so kann man nicht sagen, daß gegenwärtig schon alle Teile der Frage einwandfrei beantwortet wären. Höchstens kann man annehmen, daß bei der amtlichen Handhabung des Kalenders in der alten Zeit die δεϰάτη φϑίνοντος, in der späteren Zeit die ἐνάτη μετ᾽ εἰϰάδας ausfiel. Weniger fest steht noch Schmidts Ansicht über die Behandlung der hohlen Monate, welche einen Schalt­tag erhielten. Da offenbar die Zitate aus den Schriftstellern zur Entscheidung der ganzen Streitfrage nicht ausreichen, so muß das Inschriftenmaterial die Basis dafür sein. Es ist aber leicht ein­zusehen, daß es eines sehr umfangreichen Materials bedarf, welches beiden Zeiträumen, dem Solonischen und metonischen, angehört, um festen Grund und Boden für die Entscheidung der Streitfrage zu gewinnen. Zur Behandlung der Spezialfrage, wie die Tageszählung in den mit Schalttagen ver­sehenen Monaten sich gestaltete, müßte ein besonderes Inschriftenmaterial gesammelt werden, bei welchem man über die Frage, welche Monate des betreffenden Jahres tatsächlich geschaltet worden sind, entsprechende Sicherheit hätte. Ein solches Material ist nur allmählich, mit der Zeit beschaffbar.


1) Hdb. d. griech. Chronol., S. 167—177.

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