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[§ 206. Die Oktaëteris. 373]

§ 206. Die Oktaëteris.

Den Ausgangspunkt der griechischen Zeitrechnung bildete, wie Geminos sagt, das Streben der Alten, „den Göttern dieselben Opfer in ein und denselben Jahreszeiten darzubringen“, was aber nur

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möglich sei, „wenn die Wenden und Nachtgleichen immer in dieselben Monate fallen und wenn die Tage nach dem Monde so berechnet werden, daß ihre Benennungen mit den Lichtgestalten des Mondes übereinstimmen“. Das heißt, die Alten suchten sowohl nach der Kenntnis des Sonnenjahrs wie jener des Mondjahrs und nach einer Verbin­dung beider, mithin gehen die ältesten Bestrebungen schon auf die Gründung eines lunisolaren Zyklus hinaus. Die Brauchbarkeit solcher Zyklen, d. h. ihre Überein­stimmung mit dem Himmel, hängt von der Kenntnis der kommensurablen Verhält­nisse des Mond- und Sonnenlaufs, also von den Konstanten ab, die man zugrunde legt. Rohe Näherungen jener Konstanten sind leicht zu beschaffen, daher ist auch die Konstruktion eines Ausgleichszyklus, welcher nur un­gefähr mit dem Monde und den Jahreszeiten stimmen soll, schon auf den niederen Entwicklungsstufen der Zeitrechnung möglich. Die Schwierigkeiten steigen aber desto mehr, je bessere Übereinstimmung von dem Zyklus verlangt wird; den genaueren Wert der Konstanten gibt schließlich nur die Astronomie. Daher besteht die Zeitrechnung der Griechen (und anderer Völker, die bei der Zeitbestimmung von den lunisolaren Verhältnissen ausgehen) in einer Kette von An­näherungen und allmählichen Verbesserungen.

Die Forderung, daß die Zeitrechnung sowohl mit den Jahres­zeiten als mit den Mondphasen überein­stimmen solle, entwickelt sich schon auf den ersten Stufen der Zivilisation, mit der Religion. Die Verfolgung der Mondphasen allein gibt nur das (reine) Mondjahr; da es von den Jahreszeiten vollständig abirrt, so ist ganz unwahr­schein­lich, daß man in Griechenland, wie Schmidt glaubt „hier und da, sogar auf längere Zeit, dem reinen Mondjahr treu blieb". Auch die Zyklen, welche Schmidt als erste Übergangs­formen zum Lunisolar­jahr aufgestellt hat, die Diëteris, die rektifizierte Diëteris und die Tetraetëris, sind durchaus unwahrscheinlich. Diese Perioden sollen im Laufe der Zeit angewendet worden sein, und eine soll die andere abgelöst haben. Sie sind aber so unvollkommen (und die Tetraetëris überdies unglaublich), daß man nicht annehmen kann, sie hätten irgend eine Rolle in der Entwicklung der Zeitrechnung gespielt. Un­wahrscheinlich werden sie aber noch durch die Tatsache, daß die Griechen auf einfachem Wege, ohne diese Perioden zu berühren, direkt zum 8jährigen Zyklus, der Oktaëteris, gelangen konnten. Ideler hat schon gesagt, daß zur Erkenntnis der Oktaëteris „nur gesunde Augen“ und keine Astronomie nötig gewesen seien und daß man auf diese lunisolare Periode durch Vergleichen der Zeiten der Mondphasen (des Mondjahrs) mit den Zeiten der längsten und kürzesten Mittagschatten (Gnomenbeobachtungen) kommen konnte. Ich will die Kenntnis des Gnomons, die mir in Griechenland eine spätere zu sein scheint, nicht

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einmal für die älteste Zeit, um die es sich hier handelt, voraussetzen. Vielmehr scheint mir für die Griechen derselbe Entwicklungsgang plausibel, den ich für die Römer im vorigen Kapitel (§ 172 und 179) angegeben habe.

Danach haben die Griechen sowohl die erste rohe Näherung der Längen des Mondjahrs wie jener des Sonnenjahrs gleichzeitig kennen gelernt. Die Verfolgung der Phasen des Mondes leitete auf 29 bis 30 Tage für den Mondmonat. Zur ersten Kenntnis der Länge des Sonnenumlaufs führte die Beob­achtung der Punkte des Horizontes, an denen die Sonne im Verlauf des Jahres auf- und unterging1. Man errichtete Landmarken, mit deren Hilfe man die Zeit gewisser Feste, welche in bestimmten Jahreszeiten gefeiert werden sollten, im voraus ungefähr angeben konnte. An die Stelle der Landmarken traten vielleicht später die Tempel, deren Anlage nach den Himmelsgegenden orientiert wurde2. Während man auf diese Weise — und möglicher­weise auch durch die Verfolgung der Wiederkehr der jährlichen Auf­und Untergänge der hellsten Sterne — allmählich lernte, daß der


1) Die Tage, an welchen die Sonne im Mittag an aufrecht stehenden Gegen­ständen den längsten resp. kürzesten Schatten erzeugt, d. h. die Zeiten des Winter- und Sommersolstiz, sind in Athen wenigstens, und wie es scheint schon in alter Zeit, mit Hilfe von Berggipfeln oder sonstigen auffälligen Punkten des athenischen Horizontes bestimmt worden. Hierauf deutet eine Stelle bei Theophrast (De sign, pluv. I 4), nach welcher Phaeinos in der Beobachtung der Solstitien der Vorgänger Metons war und „sich die Kunde von der Sonnenwende durch den Lyka­bettos erwarb“ (ἀπὸ τοῦ Λυϰαβηττοῦ τὰ περὶ τὰς τροπὰς συνεῖδε). Der Berg Lyka­bettos liegt östlich in einiger Entfernung von Athen, derartig, daß für einen Be­obachter, welcher sich auf einem Hügel der Pnyx (im Westen der Stadt) befand, die Sonne zur Zeit des Sommersolstiz gerade über dem Gipfel des Lykabettos aufging. Da der Gipfel des Berges nach beiden Seiten sehr scharf abfällt, bot diese natürliche Landmarke, wie K. Redlich (Der Astronom Meton u. sein Zyklus, Hamburg 1854, S. 20—25) über­zeugend auseinander­gesetzt hat, die Möglichkeit, durch Beobachtungen der Sonnenaufgänge den Tag des nördlichsten azimutalen Fortschreitens der Sonne ungefähr bestimmen zu können. Auch Meton wird sich bei seinen anfänglichen Versuchen dieser primitiven Methode bedient haben; später stellte er in der Nähe der Mauer der Pnyx ein Heliotropion auf (die Konstruktion dieses Instrumentes ist nicht bekannt), mit welchem er wahr­scheinlich beim Sommersolstiz einige Tage hindurch den Mittagsschatten maß, um die Zeit des kürzesten Schattens zu finden. Daß die griechischen Astronomen sich auch ander­wärts ähnlicher Marken des Horizontes bei den Solstiz­beobachtungen bedienten, geht aus der Mitteilung des Theophrast (in der obgenannten Stelle) hervor, wo­nach Matriketas in Methymna ἀπὸ τοῦ Λεπετύμνου und Kleostratos in Tenedos ἀπὸ τῆς Ἴδης das Solstiz (Wintersolstiz, s. Redlich, a. a. O., S. 34, Anm. 19) be­obachtet haben.

2) Die Untersuchungen von H. Nissen über Tempelorientierungen haben er­geben, daß speziell die hellenischen Tempel des Altertums weniger nach den Sternen, als vielmehr nach den Auf- und Untergängen der Sonne (hauptsächlich nach der Ostrichtung) orientiert gewesen sind.

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Umlauf der Sonne etwa 365 Tage währt (eine Kenntnis, mit der man sich noch durch Jahrhunderte hindurch begnügen mußte), nahm man für die Länge des Mondmonats das Mittel aus 29 und 30 Tagen, nämlich 29 12 Tage an. Damit hatte das Mondjahr 354 Tage. Die Verfolgung der Mondphasen zeigte, daß man dann und wann dieses Mondjahr um einen Tag größer annehmen müsse, um mit den Phasen in Überein­stimmung zu bleiben; man hatte also Mondjahre von 355 Tagen. Der Wunsch, die Phasen im voraus angeben oder doch schätzen zu können, führte schließlich zur Erkenntnis, daß nach je 8 Sonnenumläufen, d. h. nach 8 Rück­kehren der Sonne zum selben Azimutpunkt die Mondphasen nahezu auf dieselben Tage fielen; man konstruierte daraufhin eine Mondoktaëteris von 5 Mondjahren zu 354 Tagen und 3 Jahren zu 355, zusammen 2835 Tagen. Mit Hilfe dieser Periode ließen sich die Neu- und Vollmonde vorhersagen. Aus den 2835 Tagen der Mondoktaëteris folgte für ein Mondjahr der mittlere Wert von 354 38 Tagen, also für den mittleren Mondmonat die Länge von 29 1732 Tagen. Hätten die Griechen diesen letzteren Betrag von 29 1732 Tagen abgeleitet, so wären sie schon früh zu einer Ausgleichung des Sonnen- und Mondjahrs gelangt, da jener Wert dem wahren bereits nahe kommt. Aber das Hindernis, welches jetzt schon die Bildung einer lunisolaren Periode verhinderte, war die nur rohe Kenntnis des Sonnenjahrs. Indessen mußte man aus einer fortgesetzten Aufzeich­nung der Mondphasenzeiten allmählich erkennen, daß innerhalb der achtmaligen Rückkehr der Sonne zum selben Azimut­punkte am Horizonte etwa 99 Mondmonate lagen. Nahm man nun den Mondmonat nur zu 29 12 Tagen an (obwohl, wie gesagt, schon die bessere Kenntnis vorhanden sein konnte), so gaben 99 · 29 12 Tage = 2920 12 Tage, d. h. ungefähr 8 Sonnenjahre zu 365 Tagen (2920 Tage). Diese Beobachtung leitete sofort zur Aufstellung einer lunisolaren Oktaëteris; man bildete diese aus 5 gemeinen Mondjahren zu 12 Monaten und aus 3 Mondschaltjahren zu 13 Monaten, zusammen 99 Mondmonaten. Da die Oktaëteris für die Ausgleichung des Sonnen- und Mondlaufs sehr dienlich schien, werden die Griechen nun ge­trachtet haben, ihre Kenntnis, vornehmlich jene der mittleren Länge des Mondmonats, zu verbessern. Hätten sie den Mondmonat etwas genauer, z. B. zu 29 1630 Tagen angenommen, so würden sie nach Ablauf einer Oktaëteris in bezug auf den Mond um nur 0,3 Tage gefehlt haben, in bezug auf die Sonne aber um nahe 2 Tage voraus gewesen sein1. Diese Erfahrung vielleicht führte sie zu der Ver­mutung, daß das Sonnenjahr etwas länger wäre als 365 Tage;


1) 29 1630 · 99 = 2923,8 Tage (gegen 2923,528 Tage bei richtiger Mondmonats­länge; 8 Sonnenjahre haben 8 · 365,2422 =2921,938 Tage).

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man nahm schließlich 365 14 Tage für die Sonne, also 2922 Tage für die Oktaëteris an und erhielt so für den Mondmonat den Betrag von (2922 : 99) = 29 5199 Tage. Dieser ungefügige Betrag deutet darauf hin, daß der zu den 365 Tagen zugegebene  14 Tag nur eine Konjektur war; daß das Sonnenjahr wirklich nahe um diesen Vierteltag größer war als 365 Tage, kam den Griechen des 9. und 8. Jahrh. kaum zum Bewußtsein, das beweisen die viel später noch vorkommenden fehlerhaften Annahmen über die Länge des Sonnenjahrs (s. § 208).

Der ganze Erkenntnisprozeß bis zur lunisolaren Oktaëteris von 2922 Tagen, die uns Geminos als „die erste Periode, welche die Griechen aufstellten“ angibt, mag sehr lange, vielleicht bis ins 7. Jahrh. v. Chr. gedauert haben. Daraus erklärt es sich, daß Nach­richten oder Andeutungen von 8jährigen Zyklen bis in sehr alte Zeiten zurück­reichen oder selbst in das Zeitalter der Mythen zurück­übertragen werden. Bisweilen erscheinen oktaëterische Bildungen als sog. „große“ Jahre. So hat Kadmos der Sage nach für die Tötung des Aresdrachen ein immerwährendes (ἀΐδιος), d. h. achtjähriges Jahr in Knechtschaft dienen müssen; ähnlich mußte Apollon bei Admetos nach der Tötung des Drachen Python acht Jahre lang Dienst leisten. Die Daphnephorien wurden alle 8 Jahre gefeiert; in der damit ver­bundenen Prozession führte man einen Olivenstab, welcher oben eine Kugel (die Sonne) und weiter unten eine kleinere Kugel (den Mond) trug, kleine Kügelchen versinnlichten die andern Sterne und 365 Purpur­bänder die Tage des Sonnenjahrs. Die Pythien wurden ebenfalls anfänglich oktaëterisch gefeiert. Diese und andere (weniger be­deutenden) Feste wurden höchst­wahrscheinlich, da man sie zu je der­selben Jahreszeit feiern wollte, schon in alter Zeit durch eine roh gestaltete Oktaëteris reguliert. Die Sage machte selbst das Königtum oktaëterisch, wie man aus einer Stelle der Odysee ersieht, wo Odysseus von Kreta erzählt1: „Ihrer Könige Stadt ist Knossos, wo Minos ge­herrscht hat, der neunjährig [ennëeterisch] mit Zeus, dem großen Gotte, geredet“, d. h. das Königtum des Minos wurde alle 8 Jahre durch die Gnade des Zeus erneuert. Nach Plutarch (Agis 11) wurde alle 8 Jahre in Sparta in einer sternklaren Nacht von den Ephoren der Himmel observiert; fiel eine glänzende Sternschnuppe, so nahm man dies als ein Zeichen, daß die Könige der göttlichen Gnade nicht weiter teilhaftig wären; dieselben mußten zurücktreten, bis man die Orakel befragt und günstige Nachricht erhalten hatte.

Die Oktaëteris von 2922 Tagen war ungenau. Mit dem Sonnen­lauf stimmte sie zwar einen längeren Zeitraum hindurch, da


1) Od. XIX 178. 179: Τῇσι δ᾽ ἐνὶ Κνωσός, μεγάλη πόλις, ἔνϑα τε Μίνως ἐννέωρος βασίλευε Διὸς μεγάλου ὀαριστής.

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das zugrunde liegende Sonnenjahr nur um 0,0078 Tage von dem mittleren tropischen abwich; aber weil sie den synodischen Mond­monat, wie wir gesehen, zu 29 5199 = 29,51515 Tagen nahm (statt des richtigen 29,53059), so wichen schon nach einer Oktaëteris ihre Neu- und Vollmonde um 1 12 Tage vom Himmel ab. Nach Verlauf von zehn Oktaëteriden würden also die Neumonde auf das Datum der Vollmonde gefallen sein. Da nun die Anfangszeiten der griechi­schen Monate an die Neumonde geknüpft waren, so mußte man, um Übereinstimmung mit dem Monde zu erhalten, zu der Oktaëteris die 1 12 Tage hinzufügen, also die Oktaëteris auf 2923 12 Tage erhöhen. Wie Geminos auseinandersetzt (s. oben S. 368), kommt man aber dann nicht mit der Sonne überein und ist der letzteren in 160 Jahren um einen Monat voraus; man müsse also nach je 160 Jahren einen Schaltmonat weglassen, aber auch dann werde noch keine Über­einstimmung mit dem Himmel erreicht. Die Schwierigkeiten, welche sich der Ermittlung einfacher, leicht verwendbarer Ausgleichungs­perioden entgegenstellten, konnten demnach von den Alten, die haupt­sächlich auf die Empirie angewiesen waren, nur allmählich, durch Versuche, überwunden werden. Es werden verschiedene solche Ver­suche schon vor Solon unternommen worden sein. Daraus erklärt sich die beträchtliche Verschiedenheit des Datums der Monatsanfänge in den verschiedenen griechischen Staaten, welche in den Angaben der Schriftsteller hier und da, z. B. bei Plutarch und Aristoxenos1 ihren Ausdruck findet. Erst durch die weiteren Verbesserungen der Rechnung kamen die Griechen, nicht vor dem 4. Jahrh., so weit, daß die Kalenderabweichung nicht über einen Tag hinausging.


1) Plut. (Aristides 19): „Die Schlacht [von Plataia 479 v. Chr.] fand am 4. Tage des Boëdromion statt, nach der Rechnung der Athener, oder am 27. Tage des Panemos nach den Böotiern, an welchem Tage noch jetzt von den Griechen eine Vorsammlung in Plataia abgehalten wird und die Plataier wegen des Sieges dem Jupiter Eleutherios Opfer bringen. Über die Ungleichheit der Tage darf man sich nicht wundern, da selbst in gegenwärtigen Zeiten [1. Jahrh. n. Chr.], wo man es doch in der Astronomie viel weiter gebracht hat, noch viele Staaten hinsichtlich des Anfangs und Endes ihrer Monate sehr voneinander abweichen.“ — Aristox. (Elem. harmon II p. 30 Meurs.): „Den Harmonikern geht es mit den Tönen wie den Völkern mit den Monatstagen; wenn die Korinther z. B. den 10. des Monats haben, so zählen die Athener erst den 5. und andere den 8.“

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